Zwischen uns das Meer (German Edition)
vorbestraft war, nicht einmal wegen Barschlägereien oder Ladendiebstahl in seiner Jugend, konnte man dies nicht gegen ihn verwenden. Er war ein anständiger Junge gewesen, der zu einem anständigen Mann heranwuchs und vom Krieg gebrochen wurde. Er sagte aus, er habe versucht, Hilfe vom Department of Veterans Affairs zu bekommen, weil er sich ohnmächtig gefühlt habe. Als er von seiner Frau sprach, weinte er, schien es aber nicht zu bemerken. Selbst einige der Geschworenen hatten verdächtig schimmernde Augen, als er sagte: »Wenn ich nicht in den Irak gegangen wäre, würde ich vielleicht noch im Futtermittelhandel arbeiten, und wir hätten mittlerweile ein Baby. Theresa. Diesen Namen hatte sich Emily für unsere Tochter ausgesucht. Jetzt muss ich ständig an solche Sachen denken.«
Michael hatte – wie alle Verteidiger – entweder auf ein ultraschnelles oder ein sehr langsames Urteil der Geschworenen gehofft.
Dieses Mal wurde sein Wunsch erfüllt. Die Entscheidung der Jury zog sich unendlich in die Länge. Sechs Tage lang fuhr Michael in die Kanzlei und wartete an seinem Schreibtisch. Er las Berichte, befragte Zeugen und entwarf Plädoyers, doch die ganze Zeit wartete er. Das Schlimmste war, dass er zu Hause gebraucht wurde, aber nicht da sein konnte.
Seit Tamis Beerdigung befand sich Jolene in einem Zustand unvorstellbarer Verzweiflung, war in einer Dunkelheit gefangen, in der er sie nicht erreichen konnte. Die winzigen Anzeichen ihrer Versöhnung – der eine Kuss – waren in den Wellen ihrer Trauer untergegangen. Jolene trank zu viel, nahm Schlaftabletten und schlief Tag und Nacht. Nachts wachte sie schreiend auf, wollte sich aber nicht trösten lassen. Wenn er es versuchte, stieß sie ihn weg und starrte ihn mit gequältem Blick an. Die Mädchen mieden sie. Lulu weinte sich abends in den Schlaf und fragte sich, was aus ihrer Mommy geworden war.
Michael war am Ende mit seinem Latein. Er versuchte, Jolene Zeit und Raum für ihre Trauer zu lassen, aber sie zog sie alle mit nach unten und gefährdete sie. Er wusste nicht, was er tun sollte.
Jetzt summte seine Sprechanlage. »Michael? Die Geschworenen sind wieder zurückgekommen.«
Michael dankte seiner Sekretärin und schnappte sich den Mantel. Minuten später ging er im eiskalten Regen die Second Avenue entlang. Über die nassen Straßen fegten feuchte Papierfetzen und verwelkte Blätter und pflasterten Fenster, Haltestellen und Windschutzscheiben zu.
Im Gericht angekommen, stampfte er mit den Füßen auf den Steinboden und schüttelte sich den Regen aus den Haaren.
Nicht weit entfernt hatten sich einige Reporter versammelt. Weitere würden vermutlich noch folgen. In der letzten Woche hatten sowohl CNN als auch Fox News über den Fall berichtet.
»Michael!«
Sie bedeuteten ihm herüberzukommen.
Er blieb lange genug stehen, um zu sagen: »Kein Kommentar, Leute«, dann betrat er den Gerichtssaal und nahm am Tisch der Verteidigung Platz.
Die Kellers hatten in einem der hiesigen Hotels gewartet und trafen ein paar Minuten später ein.
Bis der Angeklagte von einem Wachmann hereingeführt wurde, war jeder Platz besetzt. Nach monatelanger Haft wirkte Keith blass und verhärmt. Er durfte kurz seine Eltern umarmen, dann nahm er neben Michael Platz.
»Wie geht es Ihnen?«, erkundigte sich Michael.
Keith zuckte mit den Schultern. Dieses eine Mal wirkte er nicht mehr wie ein Marine, jetzt war er nur ein Junge, dem ein Leben im Gefängnis und Schlimmeres bevorstanden: ein Leben mit seiner Schuld.
»Erheben Sie sich.« Der Richter nahm am Richtertisch Platz.
Die Geschworenen kamen herein. Michael versuchte, die Entscheidung in ihren Augen abzulesen, doch sie wichen seinem Blick aus. Kein gutes Zeichen.
»Sind Sie im Fall Der Staat Washington gegen Keith Keller zu einem einstimmigen Urteil gekommen?«
»Das sind wir«, bestätigte der Sprecher der Geschworenen.
»Wie lautet das Urteil?«
Nach dem üblichen juristischen Vorgeplänkel sagte er: »Zur Anklage des vorsätzlichen Mordes befinden wir den Angeklagten für nicht schuldig. «
Michael stieß die Luft aus, die er angehalten hatte. Er hörte, wie sich die Zuschauer hinter ihm rührten und miteinander flüsterten.
»Zur Anklage des Mordes im Affekt befinden wir den Angeklagten als schuldig .«
Jetzt brach Tumult im Zuschauerraum aus. Wieder versuchte der Richter Ruhe im Saal herzustellen. Michael hörte, wie Mrs Keller aufschrie.
»Wir legen Berufung ein, Keith«, sagte Michael rasch.
Keith sah
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