Zwischen uns das Meer (German Edition)
kurz darauf fuhren sie schon zur Middle School. Glücklicherweise hatte die Sonne endlich die Wolken vertrieben.
Auf dem Sportplatz herrschte schon größte Betriebsamkeit; Schüler, Lehrer und Eltern bereiteten die Laufbahn und das Footballfeld für die kommenden Events vor. Das gegnerische Team stand am gegenüberliegenden Ende des Spielfelds zusammen. Betsy wartete im blau-goldenen Trainingsanzug mit ihrer Mannschaft am Zielpfosten. Als sie ankamen, blickte sie auf, winkte und kam zu ihnen gerannt.
Sie grinste. »Hi, Yia Yia.«
Jolene lächelte ihre Tochter an, die für diesen kurzen Augenblick stolz war, dass sie ihr beim Wettkampf zuschauen würden. Sie spürte einen Kloß im Hals. Dies war so ein großer Moment für ihre Tochter; der erste Leichtathletikwettkampf auf der neuen Schule. Jolene beugte sich vor und gab ihr einen Kuss.
»Oh. Mein. Gott!«, keuchte Betsy und trat mit aufgerissenen Augen zurück.
»Tut mir leid«, entschuldigte sich Jolene und verbiss sich ein Lächeln. »Es hat niemand gesehen.«
Mila lachte. »Horror, Horror. Dein Vater hat es auch gehasst, wenn ich ihn in der Öffentlichkeit küsste. Aber das war mir egal. Ich habe ihm gesagt, er könnte sich glücklich schätzen, eine so liebevolle Mutter zu haben.«
»Stimmt«, sagte Betsy. Sie biss sich nervös auf die Unterlippe und blickte hinüber zu ihrer Mannschaft.
Jolene trat näher zu ihr. »Du schaffst das, Bets.«
Betsy blickte zu ihr auf, und einen Moment lang sah Jolene wieder ihr kleines Mädchen vor sich, das so gern im Sandkasten gespielt und Raupen gefangen hatte. »Ich werde verlieren. Ganz bestimmt. Ich könnte sogar hinfallen.«
»Aber du wirst nicht fallen, Betsy. Das Leben ist wie ein Apfel. Man muss ein großes Stück abbeißen, um den ganzen Geschmack auszukosten.«
»Ja, ja«, sagte Betsy mit unglücklicher Miene. »Was auch immer das heißen soll.«
»Das heißt: Viel Glück«, erklärte Mila.
»Wir gehen auf die Tribüne, um besser sehen zu können«, sagte Jolene.
»Wo ist Dad?«, wollte Betsy wissen.
»Er kommt gleich«, versicherte Jolene. »Die Fähre legt gerade an. Viel Glück, Kleines.«
Jolene setzte sich Lulu auf die Hüfte und trug sie zur Tribüne. Dort saßen schon vierzig, fünfzig Zuschauer, größtenteils Mütter und Kinder. Sie kletterten zu einer Reihe in der Mitte und setzten sich. Etwa fünf Minuten später tauchte Tami außer Atem und mit rotem Gesicht auf.
»Hab ich was verpasst?«, fragte sie und setzte sich neben Jolene.
»Nein.«
Punkt halb vier wurde der Startschuss zum ersten Wettkampf gegeben: Tausend-Meter-Lauf der Jungen.
Lulu schrie auf, als sie den Knall hörte. Sie sprang vom Sitz, rannte hin und her und rief: »Guck mal, Mommy!«
»Wo ist Michael?«, fragte Mila besorgt. »Ich hab ihn gestern noch daran erinnert.«
»Er ist bestimmt schon auf dem Weg«, antwortete Jolene. »Das hoffe ich zumindest.«
Tami vergewisserte sich mit einem Blick, ob sie besorgt war.
Jolene nickte.
Der Lauf endete. Dann wurde zum Tausend-Meter-Lauf der Mädchen aufgerufen.
Jolene holte ihr Handy aus der Tasche und rief Michael an. Doch sie erreichte nur die Mailbox. Nervös tappte sie mit dem Fuß.
Komm schon, Michael … Du musst pünktlich kommen …
Um zehn nach vier wurde Betsys Lauf aufgerufen: Hundert-Meter-Sprint. Nehmt eure Plätze ein …
Jolenes Handy klingelte. Es war Michael. Sie meldete sich sofort. »Wenn du auf dem Parkplatz bist, musst du jetzt rennen. Sie werden gerade aufgerufen.«
»Ich bin noch im Gefängnis. Mein Klient …«
»Also verpasst du es«, sagte sie scharf.
Unten ging Betsy zu ihrem Startblock. Sie beugte sich vor, stützte die Hände auf die Bahn und setzte die Füße in den Block.
»Verdammt, Jo …«
Der Startschuss ertönte. »Ich muss Schluss machen.« Jolene beendete das Gespräch. Sie stand auf und feuerte Betsy an, die alles gab und über die Bahn sprintete. Jolene war so stolz, dass ihr die Tränen in die Augen traten. »Schneller, Betsy, schneller!«
Betsy überquerte als Zweite die Ziellinie. Danach beugte sie sich keuchend nach vorn, richtete sich wieder auf und blickte hoch zur Tribüne. Triumphierend strahlte sie ihre Familie an.
Doch dann schwand ihr Lächeln. Sie sah, dass Michael nicht da war.
Sie rannte zurück zu ihrer Mannschaft.
Jolene ließ sich auf ihren Sitz zurücksinken. Sie wusste, wie weh es tat, wenn man sich vergeblich nach der Aufmerksamkeit der Eltern sehnte. Wie sehr hatte sie sich gewünscht, dass ihre Kinder
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