Zwischen uns das Meer (German Edition)
hörte sie, wie jemand scharf Luft holte. Langsam, ganz langsam drehte sie sich um und dachte: Bitte, lieber Gott, bitte nicht …
Betsy stand, mit ihrer Medaille in der Hand, im Familienzimmer. Sie holte erschrocken Luft und riss, als sie das Gehörte begriff, die Augen auf. Dann wirbelte sie herum und stürmte die Treppe hinauf.
F ÜNF
Michael fasste es nicht, dass er es laut ausgesprochen hatte.
Ich liebe dich nicht mehr.
Er hatte es nicht sagen wollen, es war ihm einfach im Zorn herausgerutscht. Aber es war da gewesen, hatte sich in ihm aufgebaut und darauf gewartet, ans Licht zu kommen. Er hatte es schon gedacht, und zwar öfter, als er sich eingestehen wollte.
Jetzt konnte er sich entschuldigen, und sie würde ihm verzeihen, vielleicht nicht sofort, aber bald. Die Familie, ihre Familie, bedeutete ihr alles, und sie liebte ihn. Das wusste er, hatte es immer gewusst; selbst jetzt, als er ihr so weh getan hatte, liebte sie ihn noch.
Er wollte sie lieben. Aber das war etwas ganz anderes, und jetzt reichte ihm das nicht mehr. Auch wenn er zurückruderte, seine Äußerung zurücknahm und sie in etwas Versöhnlicheres umformulierte, würde sich für ihn nichts ändern. Er wäre weiter in diesem Leben voller fremder Regeln und Vorschriften gefangen, entmannt von ihrer Dominanz.
Offenbar konnte er Jolenes Erwartungen nicht entsprechen. Es reichte ihr nicht, dass er seine Kinder liebte, sein Bestes gab und erfolgreich im Beruf war. Durch ihre stille, tüchtige Art verlangte sie mehr; irgendwie musste er sie für all die Entbehrungen in ihrer Kindheit entschädigen, und das überstieg einfach seine Kräfte.
Er wollte nicht mehr so tun, als wäre er der Mann, den sie sich wünschte. Jetzt war endlich der Zeitpunkt gekommen herauszufinden, was er sein wollte.
Der Entschluss war befreiend. Er wollte ihr das alles erklären, damit sie es verstand und er sich besser fühlte, aber jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt. Er musste hier weg. Er griff nach seinem Autoschlüssel, doch da sagte sie: »Geh und rede mit Betsy.«
Bei all dem Chaos hatte er das ganz vergessen. Zum ersten Mal, seit er den ominösen Satz gesagt hatte, blickte er sie an. »Ich?«
Sie sah aus wie eine der Marmorstatuen im Louvre. Sie zog sich bereits emotional zurück, barg ihre Gefühle in einem Teil ihres Inneren, wo sie sicher waren.
»Sie ist deine Tochter, Michael, und du hast ihr weh getan. Nur du hast die Möglichkeit, dafür zu sorgen, dass es ihr bessergeht. Vielleicht wird sie dir ja verzeihen.«
Er hörte die Betonung auf dem Pronomen. »Ich hab dich nicht um Verzeihung gebeten, Jo«, sagte er.
Er sah, wie sehr sie das verletzte. »Nein, Michael, das hast du nicht. Willst du dich scheiden lassen?«
»Das weiß ich nicht. Vielleicht.«
»Vielleicht.«
Er bemerkte, wie sie ihn ansah. Was Liebe betraf, war Jolene wie ein trockener Alkoholiker, wie ein Bekehrter. Entweder war die Liebe da und brannte heiß wie Feuer, oder sie war tot und kalt wie Asche. Etwas dazwischen gab es nicht, und für Ambivalenz fehlte ihr die Geduld. Unter ihrem Blick fühlte er sich klein, und fast hasste er sie dafür. Sie war immer so verdammt stark, selbst jetzt, nachdem er ihr das Herz gebrochen hatte. Hatte er sich etwa gewünscht, sie würde zusammenbrechen und sagen, wie sehr sie ihn liebte?
Er ließ sie einfach stehen und ging die Treppe hinauf.
Vor Betsys geschlossener Zimmertür blieb er stehen, zögerte kurz und klopfte dann.
»Geh weg, Mom.«
Er öffnete die Tür und sagte: »Ich bin’s.«
Kaum erblickte sie ihn, brach sie in Tränen aus. »Ich will dd … ich nicht hhh … ierhaben. Gg … eh weg.«
»Wein doch nicht, Dreikäsehoch«, bat er. Als sie ihren längst vergessenen Kosenamen aus Kindertagen hörte, schluchzte sie nur noch heftiger.
Er trat zu ihr ans Bett, setzte sich und sah sie an. In ihrer Gegenwart konnte er nicht aufrecht sitzen; seine Schultern sackten nach vorn, als wäre sein Rückgrat aufgeweicht. »Betsy«, sagte er resigniert.
Sie schniefte und sah ihn durch nasse, verklebte Wimpern an.
In ihren von Tränen feuchten Augen sah er, was er ihr angetan hatte. Seine Liebe zu Jolene war nur ein Teil ihres gemeinsamen Lebens, das Skelett ihrer Familie; aber das war nicht alles. Ihre Kinder waren die Muskeln und Sehnen. Das Herz. Wie konnte er einen Teil der Liebe entziehen, ohne dass alles andere in Mitleidenschaft gezogen wurde?
»Es tut mir leid, dass ich deinen Sprint verpasst habe.«
»Den hab ich sowieso
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