Zwischen uns das Meer (German Edition)
so etwas nie erleben würden. Sie wusste auch, dass sie das alles zu ernst nahm – schließlich ging es nur um einen Wettkampf –, aber dies war ein entscheidender Einschnitt. Wie lange würde Betsy sich schmerzlich daran erinnern? Und wie leicht hätte Michael das verhindern können!
Es gab noch einen zweiten Wettlauf – über 220 Meter –, und wieder gab Betsy alles, aber diesmal gab es keinen Triumph und kein Lächeln. Sie wurde Vierte. Danach gingen die Wettkämpfe weiter, und Lulu rannte die ganze Zeit auf der Tribüne hin und her, aber die drei Erwachsenen saßen einfach nur da.
»Ich versteh das nicht«, meinte Mila schließlich. »Ich hab’s ihm zweimal gesagt.«
»Ich auch«, bemerkte Tami. »Er kann es also nur vergessen haben, wenn er einen Hirntumor hat. Tut mir leid, Miss Z, ich mein ja nur …«
»In dieser Hinsicht ist er genau wie sein Vater«, gab Mila zu. »Ich hab Theo auch ständig angefleht, zu Michaels Schulereignissen zu kommen, aber er musste immer arbeiten. Ihre Arbeit ist eben wichtig.«
»Familie aber auch«, erwiderte Jolene leise.
Mila seufzte. »Das habe ich seinem Vater auch gesagt.«
Lulu wirbelte vor Jolene herum und stieß gegen ihren Sitz. Ihre glänzenden Augen verkündeten, dass sie jeden Moment anfangen würde zu weinen oder einfach einschliefe.
Als um Viertel nach fünf der Wettkampf zu Ende war, nahm Jolene Lulus Hand und stand auf. »Okay, gehen wir.«
Die drei bahnten sich ihren Weg über die Tribüne zurück zum Platz, wo die Sportler beider Schulen herumstanden.
»Da ist sie«, rief Lulu und zeigte auf Betsy, die allein neben dem Footballtor stand.
Jolene zog Betsy in ihre Arme und drückte sie fest an sich. »Ich bin so stolz auf dich.«
»Zweiter Platz. Ganz toll«, sagte Betsy und entzog sich ihr.
Jolene sah den Schmerz ihrer Tochter unter der brüchigen Schale des Zorns. In letzter Zeit schien sich jedes schmerzliche Gefühl bei ihr in Wut zu verwandeln.
»Ich hab noch nie jemanden so schnell rennen sehen, kardia mou. Du warst so schnell wie der Wind.«
Betsy bemühte sich nicht mal zu lächeln. »Danke, Yia Yia. «
»Wie wär’s, wenn wir heute Pizza und Eis essen gingen?«, fragte Mila und klatschte in die Hände.
»Ja, gut«, antwortete Betsy mürrisch.
Zusammen verließen sie den Sportplatz. Es war offensichtlich für Jolene – und sicher auch für Betsy –, dass alle gleichzeitig sprachen, um Michaels Abwesenheit zu überspielen. In der nächsten Stunde gaben sie sich alle Mühe, lachten ein bisschen zu laut und gaben Scherze von sich, die nicht komisch waren. Jolene wusste schon nicht mehr, wie oft jemand zu Betsy gesagt hatte, dass sie einfach großartig gewesen war. Doch die Worte prallten an ihrer Tochter ab und entlockten ihr nicht mal ein kurzes Lächeln. Der eine unbesetzte Platz an ihrem Tisch war ihnen allen nur zu bewusst.
Als sie schließlich das Restaurant verließen und nach Hause fuhren, war Jolene so wütend auf Michael wie noch nie zuvor.
Wenn er sie enttäuschte, war das eine Sache; schließlich war sie erwachsen und konnte damit umgehen. Aber sie würde nicht zulassen, dass er ihrer Tochter das Herz brach.
Mila war die Einzige, die das Unaussprechliche anzusprechen wagte. Bevor sie vor ihrem Haus aus dem Wagen stieg, drehte sie sich zu Betsy um. »Dein Vater wollte heute dabei sein. Das weiß ich.«
»Na toll«, erwiderte Betsy.
Mila schien etwas darauf entgegnen zu wollen, doch dann lächelte sie nur traurig, schnallte sich ab und stieg aus.
Zu Hause angekommen, parkte Jolene den Wagen in der Garage und schnallte Lulu vom Kindersitz ab.
»Wo ist Daddy?«, fragte Lulu verschlafen.
»Er konnte nicht kommen, weil er zu viel zu tun hatte«, sagte Betsy bissig. »Aber das ist mir egal.« Sie knallte die Wagentür zu und rannte ins Haus.
Jolene hob Lulu auf ihre Arme und trug sie die Treppe hinauf. Sie machte ihre jüngere Tochter bettfertig, las ihr eine Gutenachtgeschichte vor und deckte sie zu. Noch bevor sie das Zimmer verlassen hatte, schlief Lulu auch schon.
Dann ging Jolene zu Betsys Zimmer, klopfte und trat ein.
Betsy war bereits im Bett. Ihr pickliges Gesicht glühte rosa, weil sie es so heftig geschrubbt hatte. Den Trainingsanzug hatte sie unordentlich auf dem Boden liegen lassen. Ihre Medaille lag auf dem Nachttisch.
Jolene stieg zu ihr ins Bett. Betsy machte Platz und lehnte sich dann an sie.
»Welche Ausrede hat er diesmal?«
Was sollte Jolene antworten? Dass Michaels Arbeitsethos und
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