Zwischen uns das Meer (German Edition)
komme, oder?«
Jolene schloss die Augen. Wie sollte sie ihr das sagen?
»Mommy?«, fragte Lulu mit zittriger Stimme.
»Nein«, erklärte Jolene schließlich. »Da noch nicht, Lulu, aber dein Daddy wird dich begleiten …«
Da fing Lulu an zu weinen.
Jetzt saß Michael allein auf der Couch und blickte zu seiner Mutter. Er konnte die Sorge in ihren Augen sehen, die ungestellten Fragen. Sie fragte sich, warum er noch hier war und Jolene das alles allein erklären ließ.
Eine ganze Weile blickte sie ihn nur prüfend an. Dann verließ sie das Wohnzimmer und kam ein paar Minuten später mit einer Tasse Kaffee und einem Teller Baklava zurück. Typisch. Essen. Ihre Antwort auf alles.
Sie stellte Teller und Tasse vor ihm ab und setzte sich neben ihn aufs Sofa. Dann legte sie ihm eine Hand aufs Knie. »Als ich noch jung war … gab es eine schreckliche Zeit in Griechenland … während des Krieges. Mein Vater, meine Onkel und meine Cousins waren alle fort. Und viele von ihnen kamen nicht zurück. Aber die Familie blieb stark, und der Glaube hielt uns zusammen.«
Er nickte. Diese Geschichten hatte er schon sein ganzes Leben gehört. Der Zweite Weltkrieg war ihm immer vorgekommen wie etwas, was in ferner Vergangenheit lag und unbegreiflich war; jetzt dachte er an seine Verwandten, die er an den Feind verloren hatte. Vorher waren es für ihn nur Namen in einem Buch gewesen. Unbewusst griff er nach einem Baklava und fing an, es zu essen. Gott, wie sehr er sich wünschte, sein Vater wäre jetzt hier.
»Ich ziehe zu euch und kümmere mich um die Mädchen.«
»Nein, Ma. Wir haben kein Zimmer für dich, und du hast deinen Laden. Ich engagiere jemanden für sie.«
»Auf gar keinen Fall. Ich dulde es nicht, dass sich eine Fremde um meine Enkelinnen kümmert. Ich stelle noch eine Teilzeitkraft fürs Geschäft ein.«
»Das kann der Laden nicht tragen.«
»Nein, aber ich. Ich werde wochentags nach Schulschluss zu euch kommen. Ich hole Lulu vom Kindergarten und Betsy vom Schulbus ab. Wir kommen schon klar. Du kannst dich auf mich verlassen, und die Mädchen werden sich auf dich verlassen.«
»Jeden Tag, Ma? Das ist ein dicker Brocken Arbeit.«
Sie lächelte ihn an. »Ich bin eine dicke Frau, wie du vielleicht bemerkt hast. Ich muss dir helfen, Michael. Bitte erlaub mir das.«
Er wusste nicht, was er darauf antworten sollte, weil er immer noch nicht begriff, dass sich seine ganze Welt auf einen Schlag geändert hatte.
»Aber das sind alles nur Detailfragen. Wichtig ist jetzt etwas ganz anderes.« Sie sah ihn an. »Du solltest jetzt bei ihr sein und euren Kindern sagen, dass alles gut werden wird.«
»Wird denn … alles gut werden?«
»Um deine Kinder solltest du dir jetzt keine Sorgen machen, Michael. Dafür ist später auch noch Zeit.«
»Und Jo?«, fragte er. »Wird mit ihr alles gut werden?«
»Unsere Jolene ist eine Löwin.«
Dazu konnte Michael nur nicken.
»Aber du lässt sie jetzt schon im Stich. Dein Vater war auch so, möge seine Seele in Frieden ruhen. Er hat nur an sich selbst gedacht. Aber jetzt musst du auch mal an andere denken.« Sie berührte seine Wange und drückte ihre Fingerknöchel leicht an sein Kinn, wie sie es so oft in seiner Jugend getan hatte. »Du musst stolz auf sie sein, Michael.«
Er wusste, dass er jetzt nicken und sagen musste, dass er natürlich stolz auf seine Frau war, aber er brachte es nicht über sich.
»Ich tue, was getan werden muss«, sagte er stattdessen und wusste, dass er damit seine Mutter enttäuschte.
Wie viele Menschen würde er noch enttäuschen, bevor das alles vorbei war?
Das ganze Wochenende erlebte Michael nur als distanzierter Zuschauer. Betsy war entweder fuchsteufelswild oder verzweifelt anhänglich. Lulu war vor lauter Verwirrung überreizt und weinte bei jeder Kleinigkeit. Michael konnte das kaum ertragen, konnte sich kaum dem Schmerz in den Augen seiner Töchter stellen, aber Jolene bewies ihre wahre Kämpfernatur. Er beobachtete, wie vorsichtig und liebevoll sie mit den Mädchen umging. Nur wenn sie nicht hinsahen, zeigte sich ihr eigener Schmerz; immer wieder traten ihr Tränen in die Augen, und dann wandte sie sich rasch ab und wischte sie mit dem Handrücken ab.
Eine Stunde zuvor hatte sie die Mädchen ins Bett gebracht. Gott mochte ihm vergeben, aber auch das hatte er ihr überlassen.
Jetzt stand er vor dem Kamin im Familienzimmer. Leuchtend orangefarbene und blaue Flammen umtanzten die Holzscheite und verströmten ihre Wärme. Trotzdem war ihm
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