Zwischen uns das Meer (German Edition)
kalt, eiskalt.
Er blickte zur Küche hinüber. Im Fenster über der Spüle sah er, wie das Mondlicht auf die Bucht fiel.
»Sie schlafen«, sagte Jolene, als sie ins Zimmer trat. »Jetzt können wir reden.«
Ich will nicht reden, nicht darüber, noch nicht, überhaupt nie mehr. Das hätte Michael am liebsten gesagt. Er wusste, das war selbstsüchtig, aber es stank ihm ganz gewaltig, dass er jetzt Mr Mom spielen sollte. Allerdings durfte er das nicht sagen. Er würde dastehen wie ein Arschloch, wenn er gestand, dass er die Aufgabe nicht wollte, die ihm zugeschanzt worden war. Dass er nicht mal wusste, wie er sie angehen sollte. Wie sollte er eine Kanzlei mit sechzehn Angestellten leiten, seine Klienten verteidigen und den strapaziösen Alltag mit zwei Kindern meistern? Schule, Ausflüge, Mahlzeiten, Wäsche, Hausaufgaben.
Allein der Gedanke daran überwältigte ihn.
»Wie zum Teufel soll ich das alles schaffen?«, fragte er und wandte sich zu ihr. »Ich hab einen Job.«
»Deine Mutter wird dir eine große Hilfe sein. Sie sagte, sie würde jemanden fürs Geschäft einstellen, und das ist einfach perfekt. Ich möchte nicht, dass eine Nanny sich um die Kinder kümmert – ihre Angst und Verwirrung ist ohnehin schon groß«, erwiderte Jolene. »Vor allem Betsy ist momentan wirklich verletzlich, und Kinder können grausam sein. Sie wird dich brauchen, Michael. Beide werden dich brauchen. Du musst wirklich für sie da sein. Ich möchte …«
»Du möchtest.« Als er das hörte, riss ihm schon wieder der Geduldsfaden. »Typisch, Jo. Du verschwindest, sagst mir aber vorher noch, wie ich die Dinge nach deinen Vorstellungen angehen soll.«
»Nicht die Dinge, Michael. Meine Kinder.«
Er hörte, dass ihre Stimme brach, und wusste, wie sehr er sie verletzt hatte. Noch vor nicht allzu langer Zeit hätte er sich zu ihr gewandt, sie in den Arm genommen und sich entschuldigt. Aber jetzt stand er einfach nur da, senkte den Kopf und starrte finster auf den abgetretenen Holzboden unter seinen Füßen. Das Wort Scheidung hing wie Rauch zwischen ihnen in der Luft.
Sie wartete eine ganze Weile. Ihr Atem klang wie Wellen, die sich am Ufer brachen, rau und stoßweise. Er spürte, dass sie ihn verurteilte. Dann verließ sie ohne ein Wort den Raum.
Am Montagmorgen fuhr Tami kurz nach Schulschluss bei Jolene vor und hupte.
Jolene ging die Einfahrt hinunter und stieg in den großen weißen Truck ihrer Freundin.
Sie blickten sich schweigend an und sahen in den Augen der anderen die eigenen Ängste, Sorgen und Hoffnungen.
Tami seufzte. »Wie war’s?«
»Brutal«, antwortete Jolene. »Und bei dir?«
»Ich hab’s gerade so überlebt.« Sie legte den Rückwärtsgang ein und fuhr die Einfahrt hinunter. Kurz darauf rasten sie über die Interstate Richtung Tacoma.
»Seth hat versucht, cool zu sein, als ich es ihm gesagt habe«, erklärte Tami nach einem für sie ganz untypischen Schweigen, das über Meilen angedauert hatte. »Er fragte, was wäre, wenn ich nicht zurückkäme. Er ist nicht mal dreizehn, da sollte er seiner Mom nicht solche Fragen stellen müssen.«
»Betsy war stinksauer. Sie meinte, sie würde mir nie verzeihen, wenn ich sie allein ließe. Die Armee sei mir wichtiger als sie.«
»Carl hat geweint«, sagte Tami leise, nachdem sie erneut eine ganze Weile geschwiegen hatte. »Ich habe ihn noch nie weinen sehen. Es war …« Ihr brach die Stimme. »Mann, das war hart.«
Jolene schluckte, weil sie einen Kloß im Hals hatte. »Was ist schlimmer«, fragte sie dann, »ein Mann, der weint, wenn du in den Krieg ziehst, oder einer, der nicht weint?«
Danach sagten sie kein Wort mehr. Die Fahrt verging im Nu, und schon kurz darauf waren sie an ihrem Stützpunkt angekommen und fuhren zum Checkpoint.
Sie zeigten ihre Ausweise, nickten dem Wachhabenden zu und fuhren hinein.
Im Flur vor dem Klassenraum der Fliegerstaffel saßen mehrere Angehörige ihrer Einheit auf Stühlen an der Wand. Außer den jüngeren Männern, die wie aufgeputscht wirkten, sagte kaum einer etwas. Smitty – der rührend junge Smitty mit seiner Zahnspange, den Pickeln und der welpenhaften Lebhaftigkeit – ging grinsend von einem zum anderen, fragte, wie es im Kampf sei, und verkündete, sie würden da drüben alles kräftig aufmischen. Jolene fragte sich, was seine Mutter wohl gerade empfand …
Jolene und Tami lehnten sich an die Betonwand und warteten darauf, an die Reihe zu kommen.
Da ging die Tür des Klassenraums auf, und Jamie Hix kam heraus. Sein
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