Zwischen uns das Meer (German Edition)
wollte auf Jolene zugehen, blieb aber plötzlich stehen, als versagten ihr die Beine. »Wie lange wirst du fort sein?«, fragte sie, und ihre Stimme zitterte in dem Bemühen, stark zu bleiben.
»Ein Jahr«, sagte Michael.
Lulu runzelte die Stirn. »Wie lange ist das? Bis nächste Woche?«
Jolene wandte sich zu ihrem Mann. »Vielleicht solltest du mal mit Betsy reden.«
»Ich? Was zum Teufel soll ich ihr denn sagen?«
Mit dieser einen Frage krachte alles über Jolene zusammen. Sie bekam Angst, als ihr bewusst wurde, was sie bedeutete. Wie würde Michael als alleinerziehender Vater sein? Würden sich seine Kinder so auf ihn verlassen können wie bisher auf Jolene?
Sie stand auf und versuchte, Lulu auf dem Boden abzusetzen, aber das Kind klammerte sich wie ein Äffchen an sie. Also ging sie mit ihr auf dem Arm, und ohne ein weiteres Wort zu Michael oder Mila zu sagen, aus dem Wohnzimmer, den Flur entlang zum Gästezimmer. Es war zwar nicht ideal, das Ganze mit beiden Mädchen gemeinsam zu besprechen, aber in dieser Situation war nichts ideal.
Sie klopfte an die Tür.
»Geh weg!«, schrie Betsy.
»Das tue ich ja«, antwortete Jolene. »Deshalb müssen wir uns unterhalten.« Sie wartete einen Augenblick, um sich zu sammeln, und betrat dann das Zimmer, das mit einer wilden Folientapete aus den Siebzigern tapeziert und mit weiß lasierten Möbeln ausgestattet war.
Betsy saß mit angezogenen Knien auf einem der Rattanbetten. Sie wirkte fuchsteufelswild.
»Darf ich mich setzen?«, fragte Jolene.
Betsy nickte mit störrischer Miene und rutschte ein Stück beiseite. Jolene und Lulu nahmen neben ihr Platz. Am liebsten hätte Jolene sofort den Sprung ins kalte Wasser gewagt, aber sie wusste, dass Betsy sich auf ihre Art diesem schwierigen Gespräch nähern musste, daher wartete sie schweigend und streichelte Lulus Haar.
»Mütter sollten ihre Kinder nicht allein lassen«, sagte Betsy schließlich.
»Da hast du recht«, erwiderte Jolene und spürte, wie diese Worte schmerzlich Widerhall in ihr fanden. »Das sollten sie nicht. Und es tut mir leid, Schatz. Wirklich sehr leid.«
»Was wäre, wenn du einfach nicht gehen würdest?«
»Dann käme ich vors Kriegsgericht und ins Gefängnis.«
»Wenigstens würdest du nicht sterben .«
Jolene sah ihre Tochter an. Das war die Angst, die sich unter dem pubertären Wutausbruch verbarg. »Es ist meine Aufgabe als Mutter, immer bei dir zu sein, dir bei deiner Entwicklung zu helfen und dich zu schützen.«
»Ganz genau.«
»Aber es ist auch meine Aufgabe, dir zu zeigen, wie man sich als Mensch verhalten sollte, und dir ein Vorbild zu sein. Was würdest du daraus lernen, wenn ich mich vor einer Verpflichtung drückte? Wenn ich mich feige oder unehrenhaft verhielte? Wenn man ein Versprechen abgibt, muss man es halten, selbst wenn man Angst hat, wenn es weh tut oder einen unglücklich macht. Ich habe vor vielen Jahren etwas versprochen, und jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, dieses Versprechen einzulösen, selbst wenn es mir das Herz brechen sollte, dich und Lulu zu verlassen … und es bricht mir das Herz.«
Jolene drängte ihre Tränen zurück. In ihrem ganzen Leben hatte noch nie etwas so weh getan, nicht mal Michaels Erklärung, er würde sie nicht mehr lieben. Aber das musste sie jetzt aushalten, damit ihre Tochter es verstand. »Du bist in Liebe und Geborgenheit aufgewachsen, deshalb kannst du nicht wissen, wie es ist, wirklich ganz allein auf der Welt zu sein. Als ich zur Armee ging, hatte ich nichts. Buchstäblich nichts. Keinen Menschen. Ich war mutterseelenallein auf der Welt. Und jetzt brauchen mich meine Freunde: Tami, Smitty und Jamie. Die ganze Helikoptertruppe. Ich muss für sie da sein. Und das Land braucht mich auch. Ich weiß, du bist eigentlich zu jung für all das, aber ich glaube daran, dass Amerika geschützt werden muss. Aus tiefstem Herzen. Also muss ich mein Versprechen halten. Kannst du das verstehen?«
Betsy stiegen Tränen in die Augen. Ihre Unterlippe zuckte rebellisch. »Ich brauche dich«, flüsterte sie kaum hörbar.
»Das weiß ich«, sagte Jolene, »und ich brauche dich, Schatz. So sehr …« Ihr brach wieder die Stimme, sie musste sich erst räuspern, um weitersprechen zu können. »Aber wir werden telefonieren und uns mailen, und vielleicht schreiben wir uns sogar ein paar gute, altmodische Briefe. Und bevor du dich’s versiehst, bin ich wieder zurück.«
Lulu zupfte an ihrem Ärmel. »Du bist doch wieder da, wenn ich in die Vorschule
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