Zwischen uns das Meer (German Edition)
seufzte. »Wie geht’s Seth?«
»Er liebt mich, vermisst mich und ist stolz auf mich. Zumindest sagt er das. Carl erzählt, dass er nicht mehr schlafen kann, seine Xbox abgebaut hat und keine Videospiele mehr spielt – er will nicht mehr sehen, wie Zeichentrickfiguren explodieren. Wenn ich bedenke, wie oft ich ihn gebeten habe, er sollte mit den dämlichen Spielen aufhören …«
»Wie sollen wir das nur durchstehen?«, fragte Jolene leise.
Darauf hatte Tami keine Antwort. In ihrer Unterkunft angekommen, schnappten sie sich ihr Waschzeug und gingen duschen. Danach schlenderten sie zur Kantine – und setzten sich mit ein paar Angehörigen ihrer Kompanie, darunter Jamie und Smitty, zusammen. Der Geruch von Braten, der zu lange im Ofen war, und zerkochtem Mais lag in der Luft. Das Stimmengewirr der Soldaten war durchdringend wie ein Düsenjet.
Smitty schob sich mit alarmierender Geschwindigkeit Mais-Sahne-Püree in den Mund und erzählte gleichzeitig vom Schießstand. Jamie starrte auf sein Essen und stocherte mit der Gabel am Braten herum. Er schien mit seinen Gedanken ganz woanders zu sein. Jolene verstand das.
»Wir müssen mit unserer Aufmerksamkeit bei dem sein, was jetzt ist«, meinte Tami. »Momentan sind wir an allererster Stelle Soldaten. Also müssen wir uns nur darauf konzentrieren, sonst …«
»Sterben wir«, beendete Jolene leise den Satz. Sie wusste, dass Tami recht hatte, sie hatte das auch schon mehrfach gedacht. Sicher war es auch das, was Jamie gerade beschäftigte. Das Ziel ihrer Vorbereitungen war letzten Endes der Krieg. Also musste Jolene ihre Gefühle beiseiteschieben und in sich verschließen. »Ich vermisse sie einfach zu sehr. Außerdem fühle ich mich die ganze Zeit schuldig. Ständig denke ich, wenn ich nur das Richtige am Telefon sagen würde, wäre alles in Ordnung.«
»Carl und ich haben uns vor unserem Aufbruch darüber unterhalten. Er hat gesagt, ich dürfte nun kein Teil mehr von ihm sein, sondern nur noch ein Teil von all dem hier. Er sagte, er wüsste, dass ich ihn liebe, aber es wäre jetzt meine Aufgabe, an mich und meine Kameraden zu denken.« Tami sah sie an. »In zwei Wochen sind wir vor Ort, Jo. Du musst dich von deinem Zuhause lösen. Vertrau Michael, er kriegt das schon alles hin.«
»Vertrau Michael«, wiederholte sie bedrückt.
»Dir bleibt nichts anderes übrig.«
Jolene wusste, dass Tami recht hatte, aber loszulassen war leichter gesagt als getan. Sie wusste, wie es sich anfühlte, als Kind allein gelassen zu werden, und obwohl ihr klar war, dass die Umstände in diesem Fall völlig andere waren, fragte sie sich, ob ihre Kinder wirklich verstanden, warum sie gehen musste. »Wie haben es die Männer bloß seit ewigen Zeiten geschafft, einfach in den Krieg zu ziehen und ihre Kinder zu verlassen?«
»Sie hatten ihre Frauen«, erwiderte Tami.
Später am Abend, als Tami schon schlief, klappte Jolene ihren Laptop auf. Vor lauter Müdigkeit fielen ihr schon die Augen zu, aber sie musste ihrer Tochter schreiben.
Liebe Betsy,
es tut mir leid, dass ich Dir bei Deinem Schulproblem nicht helfen kann. Es wird Dir auch nicht gefallen, was ich dazu zu sagen habe. Fakt ist, dass Du gegen die Regeln verstoßen hast. Jede Handlung zieht Konsequenzen nach sich. Das lernst Du am besten so früh wie möglich. Natürlich war es falsch von Sierra und Zoe, so gemein zu sein und Dich auszulachen. Aber nur Deine eigene Reaktion bestimmt, wer Du bist.
Ich habe Dir so viel zu diesem Thema zu sagen, und ich finde es furchtbar, dass wir nicht zusammen sind. Mütter und Töchter sollten es sich gemeinsam auf dem Sofa bequem machen und über Gott und die Welt reden. Bald werden wir das wieder können. Du wirst schon sehen. Bis dahin wünschte ich, ich könnte Dir raten, wie Du die schwere Zeit an der Middle School durchstehst. Auch ich habe Erfahrungen mit gemeinen Mädchen gemacht. Als ich in Deinem Alter war, erging es mir ähnlich wie Dir. Niemand mochte mich. Ich war immer die mit den schäbigen Klamotten, die sich nichts zum Mittagessen kaufen konnte. Weil ich mich zu sehr schämte, jemanden zu mir nach Hause einzuladen, hatte ich keine Freunde. Es war schrecklich. Ich war mutterseelenallein. Das wünsche ich keinem.
Ich weiß, wie es sich anfühlt, ignoriert oder ausgelacht zu werden. Also hab ich die Mädchen, die gemein zu mir waren, ebenfalls ignoriert, aber besser fühlte ich mich deswegen nicht.
Weißt Du, was mir geholfen hat? Zur Armee zu gehen, und zwar nicht, weil ich
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