Zwischen uns das Meer (German Edition)
das erinnerte sie an die Crew, die sie verloren hatten.
»Mein Sohn hat Windpocken«, bemerkte Jamie von hinten. »Hab ich euch das schon erzählt?«
Genau das brauchte sie jetzt: eine Erinnerung an zu Hause. »Das geht bei Kindern schnell vorbei. In einem Jahr hat er das schon vergessen. Betsy wollte nur noch Erdbeerlutscher essen.«
»Und wird er auch vergessen, dass ich nicht da war?«
Darauf hatte Jolene keine Antwort.
Sie löste die Brille von ihrem Helm und schnallte sich ab. Als sie aus dem Hubschrauber kletterte, überkam sie eine Welle der Müdigkeit, die alles bisher Dagewesene übertraf. Sie war buchstäblich zu Tode erschöpft.
Sie musste wissen, dass sie an diesem Abend alles nur Mögliche getan hatte, dass sie in keiner Weise mitschuldig war, aber es gab niemanden, der ihr das sagen konnte. Und niemanden, dem sie glauben würde. Wieder einmal wurde ihr bewusst, wie allein, wie isoliert sie hier war. Wie gerne hätte sie jetzt Michael angerufen, ihm alles erzählt und sich von seiner Stimme trösten lassen. So viele Soldaten hier hatten eine Art ehelicher Rettungsleine. Tami zum Beispiel.
Da es hier kaum Privatsphäre gab und Tami und Jolene fast immer gemeinsam zum Telefonieren anstanden, bekamen sie auch ihre Gespräche mit. Jolene hörte, wie Tami flüsterte: Ich liebe dich so sehr, Schatz, allein deine Stimme zu hören, gibt mir Kraft.
Sie erinnerte sich noch, wie sie und Michael auch so gewesen waren, zwei Teile eines Ganzen.
Da kam Tami zu ihr und stieß sie mit der Hüfte an. »Alles in Ordnung mit dir?«
»Nein. Und mit dir?«
»Nein. Komm, rufen wir zu Hause an. Ich muss die Stimme meines Mannes hören«, sagte Tami.
Sie schlenderten über den Stützpunkt zu den Telefonen. Erstaunlicherweise war die Schlange nur kurz. Nur zwei Soldaten warteten vor ihnen.
Jolene ließ Tami den Vortritt und hörte, wie sie sagte: »Carl? Baby? Du fehlst mir so …«
Sie versuchte nicht zu lauschen. In diesem Augenblick verzehrte sich alles in ihr nach Michael, sie musste von ihm hören, dass er sie liebte, dass er auf sie wartete, dass sie nicht so allein war, wie sie sich fühlte, und dass zu Hause ein Leben auf sie wartete.
Als Jolene endlich an der Reihe war, gab sie die Nummer ein und hoffte nur, es wäre jemand zu Hause. Denn dort war es Samstagnachmittag, Viertel nach zwei.
»Hallo?«
»Hey, Michael.«
Sie schloss die Augen und stellte sich vor, wie er lächelte. Sie wollte ihm mehr sagen, ihm erzählen, wie sie sich fühlte, doch das konnte sie nicht. Er hätte es nicht verstanden. Er war anders als Carl; er war nicht stolz auf sie. Er verstand nicht, wie sehr ihr ihre Kameraden, mit denen sie diente, am Herzen lagen. Bei diesem Gedanken fühlte sie sich noch isolierter und einsamer.
Sie hörte das Knacken des Stuhls, als er sich setzte, und dieses banale Geräusch erinnerte sie schmerzhaft an die Menschen, die sie zurückgelassen hatte, die ihr Leben ohne sie weiterlebten und Erinnerungen schufen, an denen sie nicht teilhaben konnte.
»Wie geht es dir, Jo?«
Sie spürte, wie ihre Lippen zitterten. Seine Stimme war so sanft; sie musste sich ermahnen, dass er das eigentlich nicht wissen wollte. Wann hatte er je etwas über ihre Arbeit erfahren wollen? Sie konnte ihm nicht sagen, dass heute Abend Freunde von ihr ums Leben gekommen waren und sie vielleicht sogar dazu beigetragen hatte. Er würde nur antworten, dass der Krieg sinnlos war und die Soldaten umsonst gestorben waren. Sie straffte die Schultern und räusperte sich. »Wie geht’s meinen Mädchen? Freut Lulu sich schon auf ihren Geburtstag?«
»Sie vermissen dich. Betsy hat von einer Helikopterpilotin gehört, die abgeschossen wurde. Das hat sie ziemlich getroffen.«
»Sag ihr, ich habe nichts mit dem Kampfgeschehen zu tun.«
»Stimmt das auch?«
Sie dachte an den abgeschossenen Hubschrauber und krümmte sich innerlich. »Natürlich. Ich bin hier sicher.« Schließlich wollte er das doch hören. »Kann ich mit den Mädchen sprechen?«
»Mom ist mit ihnen ins Kino gegangen.«
»Ach.«
»Sie werden ziemlich enttäuscht sein. Du fehlst ihnen sehr, Jo. Lulu fragt ständig, ob du zu ihrer Geburtstagsparty kommst.«
Du fehlst ihnen . »Ich muss jetzt Schluss machen.«
»Nicht. Ich wollte noch …«
Immer ging es darum, was er wollte. Frustration überkam sie. Es war dumm von ihr gewesen, auf ihn zu bauen. »Ich muss aufhören, Michael. Hier warten noch andere.«
»Dann pass auf dich auf«, sagte er nach kurzem
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