Zwischen uns das Meer (German Edition)
Wahrscheinlich stimmte das auch, aber Michael hatte keine Ahnung, wer er war.
Der Captain blieb beim Sofa stehen und nahm sein Barett ab. Als er Michael ansah, lag Mitleid in seinen Augen. »Jolenes Black Hawk ist vor einigen Stunden abgeschossen worden.«
Michael ließ sich langsam vor den Kamin sinken. Hinter ihm flackerte ein Feuer. Obwohl es viel zu nah und viel zu heiß war, spürte er nicht das Geringste.
»Sie wird gerade nach Landstuhl in Deutschland geflogen. Das ist das größte amerikanische Militärkrankenhaus in Europa. Also ist sie in guten Händen.«
»In guten Händen«, wiederholte Michael und versuchte mit reiner Willenskraft, klar zu denken. »Aber wie geht es ihr?«
»Einzelheiten weiß ich nicht, Sir«, sagte Lomand.
»War Tami bei ihr im Hubschrauber?«
»Ja«, antwortete Captain Lomand. »Aber gegenwärtig habe ich auch keine Informationen über ihren Zustand. Ich weiß nur, dass sie lebt.«
»Was soll ich tun? Wie kann ich ihr helfen?«
»Beten Sie, Michael. Mehr können wir alle im Moment nicht für sie tun. Sobald wir neue Informationen bekommen, wird ein Mitarbeiter vom Roten Kreuz Sie anrufen.«
Michael starrte auf seine Hände und sah, dass sie zitterten. Komische Dinge fielen ihm auf, alberne Dinge – er hörte seinen eigenen Herzschlag und die Luft, die er ausatmete, und irgendwo im Haus knackte ein Balken.
»Es werden sich später Leute bei Ihnen melden. Um Ihnen zu helfen«, bemerkte Lomand.
Michael hatte keine Ahnung, wie Fremde ihm helfen sollten, aber es kümmerte ihn auch nicht, daher schwieg er. Wörter waren plötzlich gefährlich geworden; es gab zu viel, was er weder hören noch bedenken wollte. Er wollte nur, dass dieser Mann jetzt ging. »Ich muss sie sehen.« Dieses eine wusste er sicher.
»Natürlich.«
Lomand blieb noch einen Moment mit gequälter Miene stehen. »Sie ist eine Kämpfernatur«, sagte er leise.
»Ja.« Michael konnte jetzt nicht mehr zuhören. »Danke …« Er wollte den Mann mit seinem Namen anreden, hatte ihn aber vergessen. Also stand er auf, ging zur Haustür und öffnete sie. Er hörte, wie der Captain ihm nachkam, hörte seine schweren Schritte auf dem Holzboden, aber keiner von ihnen sagte ein Wort.
An der Tür versicherte der Captain: »Wir werden alle für sie beten.«
Michael nickte. Er hatte nicht mehr die Kraft, etwas zu sagen, nicht mal danke . Er stand an der Haustür und sah dem Captain nach, als er stocksteif, mit äußerst korrekt sitzendem Barett und herabhängenden Armen die Einfahrt hinunterging.
Für Michael setzte die Zeit aus. In der einen Minute stand er noch da und sah einem Soldaten nach, der zu seinem Wagen ging, und in der nächsten Minute war er vollkommen allein und starrte in den langsam dunkler werdenden Garten.
In seinem Beruf hatte er schon Dutzende von Opfern und Angeklagten sagen hören: Ich weiß nicht mehr, was ich tat … ich hab mich einfach ausgeklinkt, mein Kopf war abgeschaltet.
Jetzt wusste er, wie sich das anfühlte, wie ein Kopf sich einfach abschalten und die Arbeit einstellen konnte.
Langsam schloss er die Tür und kehrte in seine warme Küche zurück. Er hörte nur noch seinen eigenen Herzschlag, seinen Atem und jenes Wort, immer und immer wieder.
Abgeschossen.
Möglicherweise lag sie gerade im Sterben … ganz allein …
Er schloss die Augen und stellte sich einen Augenblick vor, wie er sie verlieren würde: die Beerdigung, die Beileidsbekundungen, die Gefühle. So weh es auch tat, er konnte einfach nicht damit aufhören. Er wollte diesen Schmerz; er verdiente ihn. Und wie sollte er das Schlimmste überleben, wenn er nicht vorbereitet war?
Das Problem war nur, dass er nicht sagen konnte, was das Schlimmste war. Es den Kindern sagen zu müssen; sie ohne Jolene aufzuziehen und dabei zu versagen; vor ihren Freunden zu stehen – ein Witwer, der seine Frau mit bösen Worten und einem gebrochenen Versprechen in den Krieg geschickt hatte; in ein leeres Haus zurückzukehren und allein in einem Bett zu schlafen.
Sie zu vermissen.
Das würde das Schlimmste sein. Wie hatte er so blind sein und all dies vergessen können, als er sagte: Ich liebe dich nicht mehr? Dann dachte er an die schlimmste Zeit ihrer Ehe. Jolene schien ihm gleichzeitig so groß und so klein geworden zu sein – irgendwie der Dreh- und Angelpunkt seines Daseins. Er nahm ihr ihre Stärke und Unabhängigkeit übel. Er wollte von ihr gebraucht werden, obwohl er wusste, dass er unzuverlässig war. Er hatte ihr die Schuld an
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