Zwischen uns das Meer (German Edition)
seinem Elend gegeben, dabei hatte er all das, was wirklich wichtig war, vernachlässigt.
Und jetzt würde er vielleicht ohne sie leben müssen. Die Vorstellung war unerträglich. Er konnte nur Einzelheiten dieses Zustands an sich herankommen lassen – die Gespräche, die Verantwortung, die Reaktionen der anderen –, aber die ganze Wahrheit, ein Leben, das ohne sein Herz weiterging, war zu entsetzlich.
Er taumelte zur Küchentheke und griff zum Telefon. Er brauchte drei Anläufe für die Telefonnummer seiner Mutter – seine Finger zitterten so heftig, dass er sich ständig vertippte. Als seine Mutter sich atemlos meldete und hocherfreut über seinen Anruf war, durchschoss ihn ein so scharfer Schmerz, dass er kaum sprechen konnte.
»Hey, Michael. Wie schön, von dir zu hören. Ich packe gerade ein paar Kisten im Laden aus. Gilt unsere Verabred…«
»Jolene«, sagte er mit brennenden Augen.
»Michael?«, fragte seine Mutter langsam. »Was ist?«
Er beugte sich vor und lehnte sich mit der Stirn an die Küchenwand (mit der sonnengelben Tapete, eine Küche muss sonnig sein, Michael, findest du nicht? Sie ist das Herz des Hauses). Jetzt konnte er nichts mehr sehen. »Jo ist abgeschossen worden. Sie lebt – und wird gerade in ein Krankenhaus nach Deutschland geflogen.«
Er hörte, wie seine Mutter erschrocken Luft holte. »Oh, mein Gott. Wie …«
»Mehr weiß ich auch nicht, Mom.«
»Ach, kardia mou, das tut mir so leid …«
Als er hörte, wie sie leise seinen alten Kosenamen sagte, verlor er die Fassung. Er holte stockend Luft, und dann weinte er, wie er noch nie geweint hatte, nicht mal beim Tod seines Vaters. Er dachte an Jolene, wie sie lächelte, lachte, wie sie ihre Töchter umarmte, wie sie sie in der Luft umherwirbelte, wie sie ihn in den Arm nahm und sich in der Nacht an ihn schmiegte.
Er weinte, bis er innerlich vollkommen leer war. Dann richtete er sich langsam auf und wischte sich über die Augen. Seine Mutter redete immer noch, sagte irgendwas … ihre Stimme summte in seinen Ohren, aber er hörte nicht hin. Nichts konnte ihn jetzt trösten. »Lass mir ein bisschen Zeit, Ma. Ein paar Stunden, um es den Mädchen zu sagen«, bat er.
Als er auflegte, redete sie immer noch.
Er beugte sich über die Spüle und dachte einen Moment, er müsste sich übergeben. Auf schlechte Nachrichten reagierte er manchmal so – auch, als man ihm mitgeteilt hatte, dass sein Vater Metastasen hatte. Er schluckte mühsam und versuchte mit reiner Willenskraft, seinen rasenden Puls zu kontrollieren. Sie könnte sterben. Der silberne Abfluss verschwamm vor seinen Augen, dann stiegen ihm wieder brennende Tränen in die Augen, liefen ihm über die Wangen und tropften ins Spülbecken.
Wie lange stand er so vornübergebeugt an der Spüle und weinte?
Als er wieder ruhiger atmen konnte, wischte er sich das Gesicht ab und richtete sich mühsam auf. Langsam ging er durchs Haus die Treppe hinauf. Jede Stufe war ein Sieg, so als würde er einen Berg hinaufradeln. Als er Betsys Zimmertür erreichte, keuchte er und schwitzte.
Er hielt inne, weil er sich mehr als alles andere wünschte, nicht der Überbringer dieser schlechten Nachricht sein zu müssen. Dann ging er hinein und dachte eine Sekunde zu spät daran, dass er hätte anklopfen müssen, weil halbwüchsige Mädchen ihre Privatsphäre brauchten.
Seine beiden Töchter saßen zusammen auf dem Bett und sahen sich das Video an, auf dem Jolene eine Gutenachtgeschichte vorlas.
Als Michael das sah, hätte er am liebsten sofort kehrtgemacht und das Zimmer wieder verlassen. Gleich würde sich alles für sie ändern, es wäre nie mehr wie zuvor. In wenigen Sekunden würden sie erfahren, dass jederzeit etwas Schlimmes passieren konnte, auch, wenn man am wenigsten damit rechnete. Helikopter konnten abgeschossen werden, Mütter verwundet … und Schlimmeres.
Er drohte tatsächlich, das Gleichgewicht zu verlieren.
»Willst du auch zuhören, wie Mommy mir was vorliest, Daddy?«, fragte Lulu.
Michael versuchte sich zu rühren, aber er stand nur leicht schwankend da und hielt sich am Türrahmen fest. Dann stürzte er vorwärts und schaltete den Fernseher aus.
Betsy runzelte die Stirn. »Was ist los?«
Als er daraufhin schwieg, wich Betsy alle Farbe aus dem Gesicht. »Geht’s um Mom?«
»Ist Mommy da?«, fragte Lulu. »Jippieh! Wo ist sie?«
Hoffnung , dachte Michael. Er musste seine Angst beiseiteschieben und ihnen Hoffnung schenken.
Aber was, wenn sich diese Hoffnung als
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