Zwischen uns die Zeit (German Edition)
Tasse hinweg an.
» Oh«, sage ich nur.
Maggie zieht die Augenbrauen zusammen. » Wart ihr beide gestern Abend nicht verabredet?«
Ich will nach meiner Tasse greifen, aber meine Hand zittert so, dass ich Angst habe, sie zum Mund zu führen, und stattdessen nur die Untertasse näher an mich heranziehe. » Doch, wir waren mit zwei Freunden von mir im Kino. Aber auf dem Nachhauseweg haben wir uns gestritten…« Ich hebe den Blick und sehe sie an. » Bennett ist auf den Parkplatz gefahren und irgendwann bin ich ausgestiegen und nach Hause gelaufen. Seitdem habe ich ihn nicht mehr gesehen.« Das hört sich selbst für mich so ausgedacht an, dass ich kaum zu hoffen wage, dass sie mir glaubt.
» Und du hast wirklich keine Vermutung, wo er sein könnte?«
Ich schüttle den Kopf.
» Ich weiß gar nicht, warum ich mir überhaupt so viele Gedanken um einen wildfremden Studenten mache, der bei mir zur Untermiete wohnt. Bennett kann natürlich tun und lassen, was er will.« Der besorgte, ratlose Unterton in ihrer Stimme verrät mir, was ich ohnehin schon die ganze Zeit gespürt habe. In der kurzen Zeit, die Bennett bei ihr gelebt hat, hat sie ihn bereits fest in ihr Herz geschlossen. Plötzlich sieht Maggie mich durchdringend an. » Kannst du dir erklären, weshalb die Polizei als Erstes mich angerufen hat, als der Wagen gefunden wurde?«
» Na ja, vielleicht, weil er hier gewohnt hat?«, sage ich.
» Das könnte natürlich ein Grund sein. Aber das war es nicht. Erstens bin ich in den Fahrzeugpapieren als Besitzerin des Wagens eingetragen, und zweitens…«, sie trinkt einen Schluck von ihrem Tee, » hat er im Sekretariat der Westlake Academy angegeben, ich wäre seine Großmutter!« Sie stellt die Tasse ab, stützt die Ellbogen auf den Tisch und beugt sich zu mir vor. » Ich nehme an, du weißt, dass er mir erzählt hat, er würde an der Northwestern University studieren. Und vermutlich weißt du auch, dass ich nicht seine Großmutter bin.«
Ich nicke und greife nach meiner Teetasse, um sie nicht ansehen zu müssen.
» Hast du eine Ahnung, warum er mich angelogen hat, Anna? Warum er angegeben hat, ich wäre seine Großmutter?«
Weil Sie tatsächlich seine Großmutter sind!, würde ich am liebsten antworten und ihr alles erzählen, was von dem Tag, an dem Bennett in die Stadt gekommen ist, bis zum gestrigen Abend, als ich mich allein in dem Jeep wiedergefunden habe, passiert ist. Aber ich kann ihr unmöglich sagen, dass der Säugling auf dem Foto, das auf ihrem Kaminsims steht, und der Untermieter, der plötzlich wie vom Erdboden verschluckt ist, ein und derselbe Mensch sind. » Ich weiß es nicht, Maggie.«
Sie sieht mich noch einen Moment lang prüfend an, dann zuckt sie seufzend die Achseln. » Ich habe keine Ahnung, was ich tun soll. Die Polizei hat mir geraten, eine Vermisstenanzeige aufzugeben, falls er in den nächsten vierundzwanzig Stunden nicht auftaucht. Bitte, Anna– falls du doch irgendetwas weißt, dann musst du es mir sagen.«
Wieder weiche ich ihrem Blick aus und schüttle nur stumm den Kopf.
» Gott, wenn ich mir vorstelle, dass der Junge hier in meinem Haus gewohnt und mich die ganze Zeit über angelogen hat!« Maggies Stimme zittert. » Ich habe ihn wirklich gern gehabt, und jetzt zeigt sich, dass ich ihn im Grunde gar nicht kannte.« Sie sieht mir in die Augen. » Aber irgendetwas sagt mir, dass du mehr über ihn weißt.«
Wieder ist das Bedürfnis, ihr alles zu erzählen, beinahe übermächtig. Ich will nicht, dass sie enttäuscht von ihm ist, dass sie denkt, sie hätte sich in ihm geirrt. Sie soll erfahren, wer der Junge, der so lange unter ihrem Dach gelebt hat, wirklich ist. Und wie rührend er eines Tages für sie sorgen wird.
In vier Jahren wird bei ihr Alzheimer diagnostiziert werden. Anfangs wird sie nur Kleinigkeiten vergessen– wo sie ihre Schlüssel hingelegt hat, welche Rechnungen noch bezahlt werden müssen–, aber im Laufe der Zeit wird die Krankheit immer weiter fortschreiten und bis 2002 wird sie sogar ihre Familie vergessen haben. Und wenn Bennett acht ist, wird sie sterben.
Aber fünf Jahre später wird Bennett ins Jahr 1995 zurückreisen, um sich um sie zu kümmern. Er wird in regelmäßigen Abständen wiederkommen und schließlich auch seine Schwester Brooke mitbringen. Das erste Mal werden sie an Maggies Tür klopfen und sich als Spenden sammelnde Schüler der örtlichen Highschool ausgeben, nur um die Stimme ihrer Großmutter zu hören. Wenn sich ihre
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