Zwischen uns die Zeit (German Edition)
tun. Was ist los mit ihm?
Plötzlich erstarrt er, hebt den Kopf und sieht mich an, als würde ihm erst jetzt bewusst werden, wer ich bin. » Anna?«
» Ja. Ich hole Hilfe. Bleib hier sitzen, ich bin gleich wieder da.«
» Nein!« Seine Stimme klingt so verzweifelt und gequält, dass ich zögernd stehen bleibe.
» Bennett, du brauchst einen Arzt.«
» Nein«, wiederholt er und greift nach meinem Handgelenk. » Bitte. Geh. Nicht.« Er hebt den Kopf, was ihn unendlich viel Kraft zu kosten scheint. » Es…« Er holt tief Luft. » Es geht mir schon besser.« Ich glaube ihm kein Wort. Trotz der Eiseskälte und der schneebedeckten Bank, auf der er sitzt, stehen Schweißperlen auf seiner Stirn, als hätte er hohes Fieber. » Bitte… bitte setz dich«, fleht er atemlos.
Widerstrebend lasse ich meinen Rucksack zu Boden fallen und gehe neben ihm in die Hocke, weil ich mich nicht überwinden kann, mich auf die kalte Bank zu setzen.
» Es ist gleich vorbei.« Seine Stimme klingt schon ein kleines bisschen kräftiger. » Ich hatte einen Migräneanfall«, erklärt er zwischen zwei Atemzügen. » Das passiert mir immer, wenn…« Er beendet den Satz nicht. » Bleib einfach ein bisschen hier bei mir, ja? Bitte, Anna.«
Ich werfe einen unentschlossenen Blick zur Straße und sehe dann wieder ihn an. » Okay, in Ordnung«, seufze ich schließlich und habe plötzlich das Bedürfnis, ihm über den Rücken zu streicheln, wie meine Mutter es tut, wenn es mir schlecht geht. Aber dazu kenne ich ihn nicht gut genug, also versuche ich ihn zu beruhigen, indem ich immer wieder leise » Schsch, alles wird gut« murmle.
Nach ein paar Minuten hebt er den Kopf und sieht mich eindringlich an. » Kannst du mir einen Gefallen tun?«, fragt er und sagt dann, ohne meine Antwort abzuwarten: » Bitte erzähl niemandem davon.«
» Versprochen.« Ich sehe, dass ihm immer noch der Schweiß auf der Stirn steht. » Aber lass mich dir wenigstens in dem Café dort drüben ein Glas Wasser organisieren, okay? Ich bin gleich wieder da.«
Diesmal hält er mich nicht zurück, als ich mich aufrichte und zum Coffeehouse laufe, wo ich mir von der Bedienung ein Glas Wasser geben lasse, bevor ich wieder in den Park zurückkehre.
» Bennett?« Ich bleibe verwirrt stehen. Mein Rucksack liegt noch neben der Bank im Schnee, doch von Bennett fehlt jede Spur.
7
Am Montag ist Bennett nicht in der Schule, am Dienstag auch nicht. Ich beginne, mir ernsthaft Sorgen zu machen, und versuche seine Nummer im Telefonbuch herauszufinden. Aber es gibt so viele Coopers in Evanston, dass es sinnlos wäre, sie alle abzutelefonieren, in der Hoffnung, irgendwann durch Zufall bei ihm zu landen. Also beschließe ich, im Sekretariat nachzufragen.
» Ich will doch nur wissen, ob es ihm wieder besser geht«, sage ich so ruhig und vernünftig wie möglich, nachdem ich der Schulsekretärin Ms Dawson– ohne das Versprechen zu brechen, das ich Bennett gegeben habe– erklärt habe, dass es ihm nicht gut ging, als ich ihn am Wochenende gesehen habe.
» Dafür habe ich durchaus Verständnis, Ms Greene, trotzdem bin ich nun einmal nicht befugt, private Kontaktdaten von Schülern weiterzugeben. Es tut mir leid.« Ihr Ton ist freundlich, aber bestimmt. » Morgen ist er sicherlich wieder da.«
Ach, und woher wollen Sie das so genau wissen?, würde ich am liebsten fauchen, zwinge mich aber, ein höfliches » Trotzdem danke« zu murmeln, und gehe. Ich hätte niemals das Wasser holen dürfen. Er hat mich gebeten, bei ihm zu bleiben, und was mache ich? Lasse ihn in seinem Zustand allein in einem dunklen, verlassenen Park sitzen.
Nach der Schule habe ich Leichtathletiktraining. Aber als ich mich in der Umkleidekabine umziehe und meine Teamkolleginnen kichern und fröhlich plappern höre, vergeht mir plötzlich jede Lust, in einem Pulk von Mädchen die Aschenbahn entlangzulaufen. Also stehle ich mich unbemerkt hinaus und trabe stattdessen zu der im Winter immer ziemlich einsamen Crossstrecke im Wald. Beim Laufen versuche ich mich auf das Rauschen des Windes in den Wipfeln der Bäume und das Knirschen meiner Schritte im Schnee zu konzentrieren, aber das Einzige, was ich höre, ist Bennetts Stimme in meinem Kopf. Bleib einfach ein bisschen hier bei mir, ja? Bitte, Anna.
Ich fühle mich wie eine Verräterin.
***
Es überrascht mich nicht, als sich herausstellt, dass Ms Dawson mit ihrer Einschätzung falsch lag. Bennett kommt auch am Mittwoch nicht in die Schule. Genauso wenig wie am Donnerstag
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