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Zwischenfall in Lohwinckel

Titel: Zwischenfall in Lohwinckel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Baum Vicki
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Ewigkeiten dabei heraus. Zwar kämpfte sie sich ganz ordentlich durch die Stunden hin, machte Licht, machte dunkel, las in Zeitschriftenbänden aus den neunziger Jahren, die gelbes Papier hatten und nach Tabak rochen, horchte auf den Hund, auf Wipfel, Regen, Wind, Nacht, auf den immer gleichen dicken Flötenton eines unbekannten Vogels in der Finsternis. Schließlich gab sie nach, nahm um drei Uhr ein Veronal, um halb vier ein zweites, dann ließ sie noch tausend Schafe über die Hürde springen, wurde dumpf und entschwand sich selbst. Sie schlief ein, während das Gut erwachte.
    Zwei Hähne begannen, einer konnte schon krähen, der andere lernte es erst, dann ging die Stalltür, eine Laterne pantoffelte über den Hof, ein Eimer stieß an den steinernen Brunnentrog; der Wind sprang um und kam nun beladen mit dem Duft von Streu und Mist feucht an die Fenster, im Haus hustete Herr von Raitzold, die wilden Weinranken an der Mauer zitterten zart vor Sonnenaufgang, jemand nahm den Hund mit beruhigenden Worten an die Kette. Es hellte schon mit einem dünngrünen Streifen am Horizont, aber Fräulein von Raitzold nahm noch die Laterne mit, um die letzten Blumen in den Beeten zu schneiden und für den Versand in die flachen Rohrkörbe zu packen.
    Das Fräulein kämpfte auf verlorenem Posten und wußte das auch. Das Gut war verschuldet, verpfändet, belastet bis an die äußerste Grenze des Tragbaren. Es wurde ein Loch zugestopft und ein anderes aufgerissen seit Jahren. Man war in ein verzweifeltes Experimentieren geraten, das übel auslief. Man hatte Schweine gezüchtet, und die Schweinepreise sanken, hatte es mit amerikanischer Weizensaat probiert – fünffacher Ertrag, empfohlen von der landwirtschaftlichen Versuchsstation –, und der Boden nahm ihn nicht an. Zwei Weinjahre waren schlecht gewesen, und in diesem, das ausgezeichnet schien, hatte Herr von Raitzold die Ernte vom Stock weg verkaufen müssen; der Gedanke daran machte Herrn von Raitzold schwersinnig. Es fehlte an Dünger für die Herbstbestellung, das Vieh war zu wenig für den großen Besitz und Kunstdünger unerschwingbar. Die Versicherung blieb unbezahlt. Die Steuer war zweimal gestundet worden, jetzt drohte Pfändung. Die Kartoffelernte war noch in Gang, am letzten Sonnabend hatte man die Leute mit einer letzten Anstrengung noch auszahlen können. Diese Woche näherte sich in nackter Aussichtslosigkeit dem Zahltag. Panik hatte den Gutsbesitzer ergriffen, er war herumgejagt nach allen Richtungen. Es ging um das Sonnentreppchen, um das beste Stück Wein der ganzen Gegend, um Kern und Herzpunkt des Raitzoldschen Gutes. Herr von Raitzold hatte die Orientierung in seinen Finanzen verloren, er saß über Büchern, rechnete Zinsen und Zinseszinsen, Verzugszinsen, Zuschlag von acht Prozent für verspätete Abgabe der Steuererklärung, Hypothekenzinsen, deren Höhe mit der Benennung Provisionen verschleiert wurde, rechnete, verrechnete sich, begriff nicht, wagte nicht, jemand Einblick in seine Papiere zu geben, und irrte labyrinthisch zwischen gelben, grünen, roten Aktenbogen, Rekursen und Mahnungen herum. Das Fräulein indessen schickte Blumen nach Schaffenburg, dreißig Liter Milch nach Düßwald, fünfundachtzig Eier auf den Wochenmarkt von Lohwinckel. Die Schulden ihres Bruders betrugen rund und gut gerechnet 250.000 Mark. Sie hatte eine Wocheneinnahme von 54 Mark. Sie konnte nichts tun als melancholisch lächeln, aufrecht und mager, wie sie in ihren Reitstiefeln dastand.
    An diesem Mittwoch nun, der bald nach Sonnenaufgang mit solch einer dampfenden, bedeckten Wärme anging, als sei August anstatt Oktober, schien es mit den Blumen vorbei zu sein. Astern und Gladiolen hatten die Leute selber, die lohnten den Versand nicht. Und von Rosen kamen nur mehr etwa zwanzig oder fünfundzwanzig Stück zur Blüte, eine gelbliche Sorte mit leise rötlich eingerollten Blattsäumen. Das Fräulein griff unter eine Blüte und schaute sie an, es war die Gebärde, mit der man einem müden Kind das Köpfchen hebt, um sein Gesicht zu sehen. Einen Augenblick überlegte sie, ob man für diese letzten Exemplare mit dem Preis hinaufgehen könne, aber dann sagte sie zu sich selber: »Nein. Ich werde sie alle ihr schenken. Alle.« Sie nahm die Rosenschere aus dem Korb und schnitt die Blüten ab, es lag etwas Unruhiges und Abruptes in der Bewegung, das anders war als ihre sonstige Beherrschtheit. »Sie schläft noch«, sagte das Fräulein weiter zu sich, während sie am Weinkeller

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