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Zwischenstation Gegenwart (German Edition)

Zwischenstation Gegenwart (German Edition)

Titel: Zwischenstation Gegenwart (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Neumann
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aufrecht. Würde er es tatsächlich wagen, mich zu küssen?
    »Du wirst es nicht bereuen, das verspreche ich dir«, flüsterte er mir stattdessen ins Ohr. Ich wollte schon erleichtert ausatmen, weil er mich doch nicht geküsst hatte, da streiften seine Lippen sanft über meine Wange, leicht wie eine Feder und schnell wie ein Windstoß. Es dauerte noch nicht mal den Bruchteil einer Sekunde und doch brannte meine Haut, als hätte er mir ein Brandeisen aufgedrückt. Ich war mir sicher, dass meine Haut an dieser Stelle feuerrot leuchtete, so sehr schien sie zu glühen. Stocksteif stand ich vor ihm. Was sollte ich als Nächstes tun? Luft holen, fiel mir ein, wäre nicht schlecht. Ich atmete tief ein und wollte schon ansetzen, ihm noch einmal den Kopf zu waschen und ihn zu fragen, wie er es wagen konnte, so etwas zu tun. Doch Phil hatte sich bereits auf dem Absatz umgedreht und ohne einen Abschiedsgruß verschwand er in den Gängen des Supermarkts. Die Menschen, die unsere Auseinandersetzung verfolgt hatten, merkten, dass die Show mit Phils Weggang zu Ende war, Bewegung kam in die Zuschauer und sie stoben in alle Himmelsrichtungen davon.
    Seufzend und mit noch immer klopfendem Herzen widmete auch ich mich meinem Einkaufswagen und setzte meinen Einkauf fort.
     

6. Kapitel
     
    Die Episode im Supermarkt hatte mir gezeigt, dass Phils Behauptung nicht ganz von ungefähr kommen konnte. Alleine die Empfindungen, die sein fast nicht spürbarer Kuss in mir hervorgerufen hatte, konnten nicht plötzlich aus dem Nichts gekommen sein. Tief in mir wusste ich, dass wir mehr als nur Kollegen gewesen waren. Was ich nicht wusste – und das war es, was mich am allermeisten verunsicherte – war weiterhin die Tatsache, dass ich keinen Schimmer hatte, ob er nicht doch der Auslöser für meine Misere war. Was, wenn ich mein Gedächtnis wiedererlangte und mich gerade erneut auf ihn eingelassen hatte, nur um festzustellen, dass etwas, was er getan hatte, mich in diese Lage gebracht hatte? Wäre das Loch, in das ich dann fiel, nicht umso tiefer? Was, wenn er gewalttätig war und mich geschlagen hatte? Das würde trotzdem zu seiner Aussage, dass ich ihm etwas bedeutete, passen. Wie oft hatte ich von Männern gehört, die zwar ihre Frauen liebten, sie aber windelweich schlugen. Dagegen sprach jedoch, dass ich keinerlei blaue Flecken oder sonstige Verletzungen bei meiner Einlieferung ins Krankenhaus hatte vorweisen können. Nein, das schied als Möglichkeit aus. Was aber war dann der Grund für meine Amnesie? Mir blieb wohl nichts anderes übrig, als mich auf das Wagnis einer Verabredung mit Phil einzulassen und zu schauen, was dabei rauskam. Wobei es mir immer noch nicht in den Kopf wollte, warum ich es zugelassen hatte, dass ich wieder etwas mit einem Kollegen anfing. Das war eine meiner eisernen Regeln, nachdem ich hatte mit ansehen müssen, wie mein Freund und Kollege mich betrogen hatte. Es war sogar so schlimm gewesen, dass ich deswegen die Schule gewechselt hatte, und trotzdem sollte ich dieses Risiko wieder eingegangen sein? Er musste wirklich verdammt gute Argumente gehabt haben und sehr überzeugend gewesen sein, wenn ich dermaßen über meinen Schatten gesprungen war.
     
    Ich nutzte das Wochenende, um mich intensiv auf meine Rückkehr in die Schule vorzubereiten, und damit meine ich nicht auf eine weitere Begegnung mit Phil. Nein, ich klemmte mich hinter meinen Schreibtisch und versuchte anhand meiner Unterlagen den Unterricht der Wochen vor meinem ›Unfall‹ zu rekonstruieren. Während ich in meinen Materialien blätterte und mir jede Klasse einzeln vornahm, fiel mir etwas sehr Merkwürdiges auf: Ich hatte alte Materialien wiederverwendet! Gut, englische Grammatik und Vokabeln sowie Geschichtsdaten hatten die nette Angewohnheit, recht verlässlich zu sein und sich selten zu ändern, aber meine Arbeiten und Tests waren bisher stets neu gewesen. Und doch stellte ich beim Durchblättern fest, dass ich diese Arbeiten bereits an meiner alten Schule hatte schreiben lassen. Was war bitte schön los mit mir? Ich hatte mich immer der Tatsache gerühmt, dass ich mir jedes Mal etwas Neues einfallen ließ, und nun saß ich hier und hatte ein Déjà-vu. Wie passte das mit den Aussagen von Marie und meiner Familie zusammen? Einhellig hatten sie mir erzählt, dass ich arbeitstechnisch dermaßen eingespannt gewesen war, dass ich kaum noch Zeit für sie gehabt hatte. Waren Elternabende oder sonstige Aktivitäten hinzugekommen, die es mir

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