Zwischenstation Gegenwart (German Edition)
hier auf Kursfahrt und nicht bei der Fashion- Week«, antwortete Phil an meiner statt. »Und wenn du das viel laufen nennst, dann hättest du mal im London des 16. Jahrhunderts sein müssen. Da gab es kaum Kutschen, und weißt du, was die Leute gemacht haben? Richtig, sie sind gelaufen. Jetzt stell dich nicht so an. London ist eine Stadt, in der man viel läuft. Ich würde dir empfehlen, dass du dir morgen ein paar flachere Schuhe anziehst.« Ich war froh, dass Phil die Antwort übernommen hatte, die Schülerinnen vergötterten ihn. Wenn er etwas sagte, würden sie es sicherlich tun, ganz im Gegensatz dazu, wenn ich es gesagt hätte.
»Wir sind aber Gott sei Dank im 21. Jahrhundert und da trägt man nun mal solche Schuhe«, murmelte sie leise, nickte aber einlenkend.
»16. Jahrhundert? Wie bist du denn da drauf gekommen?«, fragte ich und lächelte ihn gut gelaunt von der Seite an. Manchmal vergaß ich, dass er ebenfalls Geschichtslehrer war, und war von Neuem überrascht, wenn er mit seinem präzisen Wissen um die Ecke kam. Er war mehr als der Mann, der nur in der ersten Klasse flog.
»Ich mag die Tudors, die waren noch so herrlich verrückt. Heinrich mit seinen sechs Frauen, die blutige Mary und Lizzie ohne jeglichen Mann«, erwiderte er und lächelte ebenso herzlich zurück.
»Lizzie war zwar nicht verheiratet, aber wenn man der Forschung Glauben schenken darf, dann hatte sie doch mit dem einen oder anderen Mann ein Verhältnis.«
»Höchstens mit Dudley, mit den anderen hat sie sich nur zum Spaß abgegeben.«
»Ach, und was war das mit Drake? Den hat sie immerhin noch auf seinem Schiff begrüßt und ihn vor Ort zum Ritter geschlagen. Gerüchten zufolge soll das Schiff nicht nur wegen des Seegangs geschaukelt haben!« Das hatte ich vor einigen Monaten in meiner Unterrichtsvorbereitung zum elisabethanischen Zeitalter gelesen und es für so amüsant gehalten, dass ich es nicht vergessen hatte.
»Sie war keine Katharina von Russland, ihr Herz gehörte einzig und alleine Leicester. Wenn er nicht da war, konnte ihre Laune auf den absoluten Tiefpunkt sinken , und wehe, es kam einer auf die Idee, nicht nach ihrer Pfeife zu tanzen.«
»Ach , und mit Walter Raleigh verband sie nur eine platonische Beziehung, oder was? Immerhin hat er ihr zu Ehren eine ganze Kolonie nach ihr benannt.« Die Erwähnung einer der Favoriten der Königin entlockte Phil ein abfälliges Schnauben.
»Der war ein ganz anderes Kaliber. Der hat sich um alle möglichen Frauen gekümmert, aber der Königin hat er meiner Meinung nach nur Honig um den Mund geschmiert. Er kann von Glück sagen, dass er nicht schon früher wegen Verrats geköpft wurde. Lizzy konnte ziemlich wütend werden, wenn der Hof nicht nach ihrer Pfeife tanzte.«
»Und trotzdem hat sie es geschafft, dass man ihr ein ganzes Zeitalter widmete.«
»Sie hat ja auch viel für England getan: Die Spanier als Seemacht Nummer eins entthront, Krieg vermieden, wo es nur ging, und sich für die Künste eingesetzt, denk doch mal an Marlowe und Konsorten.«
»Konsorten? Hat der Mensch noch Töne? Hast du den größten Künstler vergessen, den diese Zeit hervorgebracht hat? Oder hast du noch nie was von William Shakespeare gehört?«
»Shakespeare? Sollte ich den Namen kennen?« Er runzelte die Stirn, als sagte ihm der Name überhaupt nichts. »Natürlich kenne ich deinen persönlichen Freund William, und ja, er ist der berühmteste seiner Zeit. Ich wollte nur sehen, wie du reagierst, wenn ich ihn nicht erwähne. Und wie du siehst, hat es funktioniert, du bist ganz aus dem Häuschen!« Ein Blick in sein spitzbübisches Gesicht verriet mir, dass er sich wie Bolle über seine Fopperei freute. Ich sah wieder auf die Straße vor uns und sprach weiter:
»Ich war schon kurz davor, an deinen Fähigkeiten als Lehrer zu zweifeln. Aber warum nennst du ihn meinen persönlichen Freund? Das letzte Mal, als ich bei Wikipedia geschaut habe, ist er immer noch 1616 gestorben , und somit ist es mir nicht vergönnt, ihn persönlich zu kennen. Es sei denn, du hättest gerade zufällig eine Zeitmaschine zur Hand«, scherzte ich. Ein merkwürdiges Geräusch von der Seite ließ mich erneut herumfahren. Phil hustete und klopfte sich mit einer Hand auf die Brust, um besser Luft zu bekommen. Meine besorgte Miene musste ausgereicht haben, denn er erklärte mir gleich:
»Nix passiert, ich habe mich nur verschluckt. Ich nenne ihn deinen persönlichen Freund, weil dein Lieblingsfilm ›Shakespeare in Love‹ ist.
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