Zwischenwelten (German Edition)
als andere? Sie glaubt wirklich, dass wir über allem und jedem stehen. Die Besucher und Touristen müssen sich verbeugen, dass sie schon ganz krumm sind, wenn sie endlich vorbeikommt, dabei ist sie ja nun wirklich nicht deren Maile! Das ist so dumm. Wenn ich hier später mal die Chefin bin …«
»Dann machst du alles ganz anders!« Ayse lacht und gibt Hala einen freundschaftlichen Schubs. Dann verschwindet das Lachen abrupt aus ihrem Gesicht. »Ich wünschte so sehr, dass ich das erleben könnte«, flüstert sie niedergeschlagen. Wenn sie jetzt durch die Kiste hin und zurück geht, kann sie darauf wetten, dass sie wieder eine völlig andere Zeit vorfindet, dass aber Hala wieder dieselbe Hala sein wird, zwölf Jahre alt und die Tochter der bedeutendsten Runjifrau. Für Ayse hat diese Welt keine Zukunft, nur eine vergangene und eine gegenwärtige Zeit. Sie schüttelt den Kopf. Diese Gedanken verwirren sie jedes Mal aufs Neue.
Schnell verabschiedet sie sich von dem Mädchen, das zwölf Jahre alt ist wie sie und mit dem sie sich bestimmt dick befreunden würde, wenn sie die Chance dazu hätte.
Tio seufzt vor Erleichterung, als er Kenta wieder aus dem Haus kommen sieht. »Gehen wir jetzt zu dem Schalter, wo wir bezahlen müssen?«
Kenta lacht und nickt. Sie geht voraus und winkt Tio und Micky, ihr zu folgen. Sie läuft mit schnellen, weit ausholenden Schritten, und Tio hat nichts dagegen, auch wenn er nach einer Weile ein bisschen außer Atem ist. Je schneller sie Ayse freibekommen, desto besser.
Nach wenigen Minuten stehen sie vor dem Maile Dhun. Tio kann ein breites Grinsen nicht unterdrücken, als er seine Verfolger erblickt, die sich zu dritt hier postiert haben. An derselben Stelle wie gestern, auf der Brücke, die zum Maile Dhun führt. Er hört, wie Kenta verächtlich schnaubt. Sie schaut nicht nach links und rechts und geht direkt an ihnen vorbei.
Die drei sollen nicht wissen, dass die schwarzhaarige Frau zu ihnen gehört. Tio nimmt allen Mut zusammen.
Kivan macht einen Schritt auf ihn zu. Ein weiterer Junge stellt sich neben ihn, und zusammen versperren sie Tio den Weg. Zu ihrer Verwunderung fängt der fremde Junge breit an zu grinsen. »Guten Morgen«, hören sie ihn sagen. »Das Geld ist in meinem Rucksack, und ihr kriegt keinen Cent davon. Keinen Khansi, meine ich. Ich liefere alles den Leuten am Schalter ab, und dann geht Ayse schön wieder mit mir nach Hause.«
Kivan streckt eine Hand nach den Riemen des Rucksacks aus und will ihn packen, aber es gelingt ihm nicht. Noch bevor seine Fingerspitzen den Rucksack berühren, spürt er zwei harte Hände auf den Schultern und wird zur Seite gestoßen. »He!«, protestiert er empört.
Die Frau mit der Kapuze – sie sieht aus wie eine einfache Ziegenhirtin – schnauzt ihn böse mit Runjiworten an. Kivan hört betroffen zu. Tio und Micky können sie nicht verstehen, Kivan aber Wort für Wort: Die schwarzhaarige Frau weiß von dem gestohlenen Geld, und sie wird Kivan und seine Freunde ohne Erbarmen wegen des Diebstahls anzeigen, wenn sie nicht auf der Stelle den Weg freigeben.
Kivan zögert. Zum Teufel, er ist der Sohn der Maile, was denkt sich dieses dreckige Weibsbild eigentlich! Doch dann überlegt er: Eine ganze Menge Kaufleute haben gestern Abend gesehen, wie er und seine Freunde mit Geld um sich geschmissen haben. Sie haben bis zum Platzen gebackenen Fisch gegessen, er hat den Jungs prächtige Gürtel mit glänzenden Schnallen nach der neusten Runjimode geschenkt, und er hat immer wieder Kannen voll Honigsüß bestellt, bis sie irgendwann schwankend nach Hause gegangen sind. Wenn ihn die Frau und dieser Dreckskerl anzeigen und die Leute befragt werden, die ihn gesehen haben, kommt alles raus. Seine Mutter ist nicht blöd und seine Großmutter schon gar nicht. Er braucht gar nicht erst zu versuchen, Ika, die oft mit Strafsachen zu tun hat, einen Bären aufzubinden. Und was für eine Blamage wäre es, wenn alles rauskäme! Zu Hause fühlt er sich jetzt schon als die große Flasche, und nicht nur zu Hause, auch auf der Straße meint er, oft mit verächtlichen Blicken bedacht zu werden: der Trottel, die Null, der Untertan seiner Mutter und seiner Schwester.
Kivan muss schlucken und tritt unwillig zur Seite. »Dich erwische ich noch«, flüstert er Tio zu. »Vielleicht komme ich mal mit meinen Freunden nach Sandbach, und dann kriegen wir dich!«
Tio reckt das Kinn und geht einfach weiter. Das ist nur Bluff, denkt er, kümmer dich gar nicht drum.
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