Zwischenwelten (German Edition)
euch gehe.« Ob der Typ das gehört hat?
Ayse dreht eine Runde über den Markt. Sie kauft eine Tüte Bonbons für Thorpas und Sirpas Kinder, schaut sich die Seifen an und einen Stand mit Schmuck. Der junge Mann lässt sie keinen Moment aus den Augen und folgt ihr die ganze Zeit. Jetzt ist sie ihrer Sache sicher. Sie geht zu Thorpas Stand zurück. Ja, sie will sehr gern mit ihnen nach Hause gehen, allein um von diesem unheimlichen Kerl wegzukommen.
Er hat nahezu alles versucht, um warm zu bleiben: Hin- und Herlaufen, Springen und die eigenartigsten gymnastischen Übungen. Aber das hilft kaum. Mit nacktem Oberkörper und bloßen Füßen ist es unmöglich, an einem Spätsommerabend wie diesem warm zu bleiben. Es geht ein leichter Wind, der das Wasser kräuselt. Tio hockt zitternd im Schilf, die steifen Arme um sich gelegt. Wie lange muss er noch warten? Es ist noch nicht ganz dunkel.
Haben die Runji Alarm gegeben, als sich herausstellte, dass er verschwunden war? Da sie ihn nicht gesucht haben, finden sie ihn sicher nicht besonders wichtig.
Und ob Kivan eins auf den Deckel gekriegt hat? Tio hofft es. Er mag den Jungen einfach nicht.
Vom anderen Ufer hallen eigenartige Schreie über das Wasser. Von Menschen? Vielleicht sind es aber auch Wasservögel. Mit deren Rufen kennt sich Tio nicht gut aus.
Er reibt sich über die Arme und spürt die Gänsehaut.
Wie es Ayse wohl geht? Hat sie schon was unternommen, um ihn zu retten? Wenn er es schafft, auf die andere Seite zu schwimmen und dann weiter in die kleine Hafenstadt zu kommen, würde er sie dann in der alten Herberge finden? Würde sie auf der Terrasse unter den bunten Lichtern sitzen, die er neulich für sie eingeschaltet hat, und froh sein, ihn zu sehen? Tio versucht sich vorzustellen, wie Ayse froh und erleichtert aufspringt und ihm um den Hals fällt und wie sie beide dann sofort, ohne sich noch einmal umzusehen, zur schwarzen Kiste rennen, um wieder nach Hause zu kommen.
Bibbernd hört er, wie sein Magen vor Hunger knurrt. Vielleicht können sie ja, bevor sie sich auf den Heimweg machen, noch kurz beim Supermarkt vorbeigehen. Mensch, wie gern würde er sich jetzt auf die Vitrine mit den Broten stürzen!
Unentschlossen starrt er noch eine Weile auf das dunkle Wasser. Er will da nicht rein. Ihm ist kalt, und im Wasser ist es bestimmt noch viel kälter. Außerdem ist er müde und hungrig. Doch er hat kaum eine andere Möglichkeit. Auf dieser Seite des Flusses gibt es nichts. Ayse ist auf der anderen Seite, die Kiste ist (hoffentlich) auf der anderen Seite, und zu Hause ist auf der anderen Seite.
Kann es den Runji nicht völlig gleichgültig sein, dass er abgehauen ist?, fragt er sich plötzlich. Nimmt er sich selbst nicht ein bisschen zu wichtig? Vielleicht interessiert es sie nicht die Bohne, und sie haben ganz andere und viel wichtigere Dinge im Kopf. Vielleicht versteckt er sich hier ganz umsonst und könnte schon längst zu Hause sein.
Das gibt den Ausschlag. Tio rappelt sich auf und geht zum Wasser.
Zu seiner Überraschung ist es längst nicht so kalt, wie er befürchtet hat. Im Gegenteil, er empfindet es fast als lauwarm, wärmer als die kühle Abendluft.
Er watet hinein, bis ihm das Wasser bis zur Hüfte geht, dann lässt er sich vorsichtig in das sacken, was ihm wie ein Tümpel voller schwarzer Tinte vorkommt. Er fragt sich, warum er das dunkle Wasser gruseliger findet als das braune am Nachmittag, das ihm viel heller vorgekommen ist. Unter der Oberfläche kann sich alles mögliche Unbekannte verstecken, sowohl tagsüber als auch abends. Daran will er lieber nicht denken.
Um die grausigen Bilder aus seinem Kopf zu verbannen, fängt er mit ruhigem Brustschwimmen an. Aber wie es so ist mit Angstfantasien – sie drängen sich immer wieder auf, auch wenn man sie überhaupt nicht brauchen kann. Und nach kürzester Zeit ertappt Tio sich bei einem verkrampften Paddeln, für das er sich im Schwimmbad fürchterlich schämen würde. »Ich schwimme wie ein totaler Anfänger!«, faucht er blubbernd halb über, halb unter Wasser. Er verschluckt sich und hustet atemlos, ermahnt sich zur Ruhe und versucht, mit kräftigen langen Zügen weiterzuschwimmen. Denk einfach, dass das hier das Schwimmbad ist, sagt er sich, nicht mehr als ein paar kurze Bahnen. Vielleicht kann er auch versuchen, an etwas ganz anderes zu denken, an etwas Schönes. Was wird er sofort und als Erstes essen, wenn er wieder in der Hafenstadt ist? Diesmal lieber kein Eis aus der Tiefkühltruhe.
Weitere Kostenlose Bücher