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Zwischenwelten (German Edition)

Zwischenwelten (German Edition)

Titel: Zwischenwelten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mariëtte Aerts
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doch sicher auch helfen?« Hala schaut sie verwundert an. Sie hat keine Ahnung, was Ayse meint. »Ich hab doch gar nichts getan, ich bin doch nur mit den Füßen in einen kleinen Teich getreten. Ist das denn so schlimm?«
    »Dieser kleine Teich«, faucht Jabiron, »ist unsere sauberste Quelle. Sie fließt geradewegs in den Tempel und füllt dort das Becken mit reinem Wasser. Auf die Verschmutzung des Wassers stehen schwere Strafen. Und das muss wieder einmal laut und deutlich verkündet werden. Hier muss ein Exempel statuiert werden.«
    »O nein …!«, entfährt es Tio, und er wirft Ayse einen hilflosen Blick zu. Was werden sie mit ihr machen? Dieselben Fragen, die ihm schon früher durch den Kopf gegangen sind, drängen sich ihm wieder auf: Kann man in einem Spiel wie diesem sterben? Und würde man in einem solchen Fall auch tot bleiben, wenn man mit dem Spielen aufhört? Und wenn es zur Verurteilung zu einer idiotischen körperlichen Züchtigung käme, würden die blauen Flecken auch noch da sein, wenn man wieder die eigene vertraute Welt betrat?
    Hinterher ist alles nur halb so schlimm. Oder doch auch wieder nicht. Tio weiß nicht so genau, was er davon halten soll.
    Nein, keine körperliche Züchtigung. Es war doch etwas Wahres an Halas Behauptung, die Runji wären ein kultiviertes Volk, und Tio hätte sich keine Sorgen wegen mittelalterlicher Bestrafung zu machen brauchen. Was man hier unter Strafvollzug verstand, schien mehr eine öffentliche Bloßstellung zu sein, bei der alle Runji über das Schicksal der Bloßgestellten mitentscheiden.
    Der Vollzug der Strafe hatte viele Interessierte angelockt. Ein paar Touristen waren auch gekommen, aber vor allem viele Runji, die Ayses Verhalten missbilligten. Offenbar wurde es hier als besonders beschämend empfunden, auf diese Weise öffentlich vorgeführt zu werden; für die Runji war es wahrscheinlich das Schlimmste, was ihnen passieren konnte: auf einem öffentlichen Platz kopfschüttelnd betrachtet zu werden und anhören zu müssen, wie ihr Urteil beraten und verkündet wurde. Wer auf diese Art vor dem ganzen Volk bis auf die Knochen blamiert wurde, hatte wahrscheinlich große Mühe, später wieder als würdiger Bürger von Terrasse anerkannt zu werden.
    Ayse stand im festen Griff einer Wächterin mitten auf der runden Terrasse und versuchte zu verstehen, was die Runji riefen. Vorschläge und Bedenken flogen hin und her, Anregungen und Einwände waren hartherzig und unerbittlich oder begütigend und verständnisvoll. Vor allem Jabiron verlangte eine schwere Strafe. Der sanftere Sorin äußerte Bedenken und argumentierte immer wieder, dass das Mädchen es schließlich nicht besser gewusst und nichts Böses im Sinn gehabt hätte. Beide hatten unter den anwesenden Runji Anhänger, die ihre Meinung durch laute Rufe oder Zischen äußerten. Die einen forderten eine lange Haftstrafe, die anderen eine Geldbuße. Auch wenn beides Tio ziemlich erleichterte – er hatte sich viel Schlimmeres ausgemalt –, saß er doch angespannt auf einer der Bänke, die ringsum aufgestellt waren, um sich herum zahlreiche Touristen, für die das Ganze ein interessantes Spektakel war. Nur einige wenige äußerten leise flüsternd ihre Empörung: »Sie ist doch noch so jung, und dann soll sie wegen so eines lächerlichen Vergehens eine Haftstrafe kriegen. Sind die Runji noch bei Trost?«
    Schließlich einigten sich beide Parteien auf einen Kompromiss: Einzelhaft, bis eine saftige Bürgschaft bezahlt wurde, um das Mädchen freizukaufen.
    »Dreihundert Runji-Glai beziehungsweise eintausendfünfhundertdreiundsechzig Khansi«, wurde beschlossen.
    Tio leerte seinen Rucksack und zählte alle Münzen, die sie noch hatten, aber es war bei Weitem nicht genug. Das bedeutete, dass er auf jeden Fall zurück in das unbewohnte Sandbach musste, um dort einen Haufen Münzen zusammenzuraffen. Er musste allein in die leere Stadt gehen, in der sie beim vorigen Mal verfolgt worden waren, wahrscheinlich von demjenigen, der ihnen auch im leeren Terrasse auf den Fersen gewesen war. Und er befürchtete inzwischen, dass es nicht das Mädchen war.
    Tio hat noch immer Ayses erschreckte Augen vor sich, als sie das Urteil hört, und er sieht noch, wie sie ihm das Gesicht zuwendet und ihn eindringlich ansieht. Er hört noch, wie sie heiser vor Nervosität schreit: »Tio! Mach was! Das geht doch nicht … Du holst mich hier doch raus, ja?«
    Tio war von der Bank aufgesprungen und auf sie zugerannt, doch die Speere der

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