Zwischenwelten (German Edition)
zurückfahren, aber … Da ist was schiefgegangen.«
Valpa blickt ihn abwartend an. Er will eine Erklärung.
»Ich bin gerade zurückgelaufen«, murmelt Tio.
»Und deine Schwester, wo hast du die gelassen?«
»Sie meinen Ayse? Also, äh … die nicht. Ich meine, die sitzt im … im Maile Dhun, mehr oder weniger.«
Valpa fällt beinahe über die Reling seines Bootes. Mit weit aufgerissenen Augen blickt er Tio ins Gesicht. »Was!«
»Sie hat was … na, ja, ausgefressen, würde ich mal sagen.«
»Und ich hab euch alle Vorschriften mindestens zehnmal vorgebetet! Und was war’s? Hat sie ins Wasser gespuckt? Hat sie sich vor der Prozession nicht verbeugen wollen? Obwohl, es muss was Schlimmeres gewesen sein. So ein junges Ding stecken sie nicht ohne Weiteres in den Dhun. Jetzt erzähl schon.«
»Sie, äh … hat sich mit nackten Füßen in eine Quelle gestellt.«
»In eine Que… Doch nicht etwa in
die
Quelle? Du willst mir doch nicht erzählen, dass ihr bis in den Maile Dhor Dhun vorgedrungen seid, um da mit nackten Füßen im heiligen Wasser herumzutanzen?« Valpa wird fast ohnmächtig vor Bestürzung.
»Tut mit leid«, flüstert Tio eingeschüchtert.
»Du brauchst dich nicht bei mir zu entschuldigen«, knurrt der alte Mann kopfschüttelnd. »Aber ich glaube, ich will gar nicht wissen, welche Strafe sie dafür gekriegt hat! Wie lange muss sie sitzen? Eine Geldstrafe? Wie viel? Dreihundert Runji-Glai? Das sind … mal kurz rechnen … das sind …«
»1563 Khansi«, sagt Tio leise. »Deshalb gehe ich jetzt …«
»Ach, die Arme!« Valpa schlägt sich an die Stirn. »Und wie willst du da rankommen? Wie war das noch mal? Ihr habt irgendwo in der Nähe Familie? Eine reiche Familie, hoffe ich. Nein? Ach, die Arme.«
Tio hüpft ungeduldig von einem Bein auf das andere. Ja, 1563 Khansi, und die muss er jetzt endlich zusammenkriegen. »Deshalb gehe ich …«, fängt er zum zweiten Mal an, wird aber wieder von Valpa unterbrochen.
»Das ist ein Skandal. Man steckt ein Kind doch nicht in den Dhun. Und wahrscheinlich hat sie nicht einmal gewusst, was sie getan hat. Sie ist keine Runji. Was sag ich, sie ist ja nicht einmal eine Salzländerin.« Valpa tobt.
Ab und zu nickt Tio und macht: »Hm, hm.« Immer ungeduldiger schaut er zu der Treppe am Kai.
»Dagegen müssen wir protestieren«, ist – kostbare Minuten später – Valpas Beschluss. »Es wird immer verrückter mit den Runji. Ich werd mal mit ein paar alten Fischern drüber reden. Es gibt noch genug, die die Runji nicht besonders lieben.«
Tio will eigentlich schnell weg, doch die letzten Sätze von Valpa beunruhigen ihn. »Sie wollen doch nicht wieder einen Krieg anfangen, oder?« Und Ayse und er wären der Anlass für neue Kämpfe zwischen den beiden Völkern! »Ich glaube, ich kann das Geld schon zusammenkriegen, machen Sie sich keine Sorgen«, versucht er Valpa zu besänftigen.
»Darum geht es nicht!«, ruft der. Er deutet mit dem Pfeifenstiel auf Tio. »Und was glaubst du, wo dein gutes Geld dann hinkommt, wo? Ich will es dir sagen: direkt in die Schatztruhe der Maile. Damit sie noch mehr Fischerboote zusammenzimmern lassen kann! Damit sie in Terrasse noch mehr Stege anlegen lassen kann und wir noch mehr Überschwemmungen kriegen.«
Tio will jetzt unbedingt los. »Ich werde es einfach bezahlen. Ich will, dass Ayse freikommt.« Zögernd entfernt er sich von Valpas altem Kahn. »Ich will, dass sie sie gehen lassen, bevor sie bei dem blöden Umzug mitlaufen muss.«
»Muss sie das? Das meine ich doch, ekelhaft! Noch ein Kind, und dann zwischen all den Dieben und Nichtsnutzen! Weiß du, warum sie das tun? Um jemanden lächerlich zu machen, mehr nicht. Das musst du dir mal vorstellen, und das, obwohl ihr vielleicht gar nichts getan habt. Aber ganz Terrasse guckt dich danach nur noch schief an.«
Während Valpa weiterpoltert, entfernt sich Tio Schritt für Schritt von dem alten Mann.
»Nein, das geht echt zu weit. Ich bin es leid, dass wir uns immer nach dem Fischvolk richten«, sind die letzten Worte, die er von dem Alten noch hört.
Stolpernd legt Tio die letzten Meter bis zur Treppe zurück. Mit einer schnellen Bewegung taucht er ab, ohne sich darüber Gedanken zu machen, dass ihn Valpa vielleicht sehen könnte. Dann tragen ihn seine Beine auf der anderen Treppe schon wieder nach oben, hoch auf den stillen Kai. Als er die menschenleere Stadt betritt, holt er erleichtert Luft, aber dann dringt die überwältigende Stille richtig zu seinen
Weitere Kostenlose Bücher