Zwischenwelten (German Edition)
die einzige Möglichkeit, den Tempel von innen zu sehen zu kriegen.«
»Den Tempel?«, wiederholt Tio erstaunt.
»Jetzt spiel hier nicht den Dummen. Ja, der Tempel. Morgen nach der Prozession.« Kivan nickt. »Was macht sie, wenn sie erst mal drin ist?«
Tio schüttelt den Kopf. Er versteht nicht, was Kivan meint. »Ich weiß nicht, wovon du redest, aber jetzt lass mich durch, ich hab noch zu tun.«
»Ja, selbstverständlich.« Kivan lacht hinterlistig. »Du musst jetzt zurück nach Sandbach, um dort zu erzählen, dass es geklappt hat: Das Mädchen ist drin.« Er packt Tio am Jackenärmel. »Und wenn ich dich jetzt nicht gehen lasse?«
Tio reißt sich los. »Zum Donner noch mal, du Spinner.« Wütend zieht er seine Jacke zurecht. Er sieht, dass Kivan total verblüfft ist. Wahrscheinlich wird der Sohn der Maile nur selten Spinner genannt. Doch er hat nicht denselben Status wie seine Schwester Hala, die die Nachfolgerin der Bedeutendsten ist. Vielleicht konnte Kivan das nur schwer verkraften? Es ist bestimmt nicht leicht, der älteste Sohn zu sein und trotzdem die weniger wichtige Person innerhalb der Familie. Wenn man überhaupt von einer Familie sprechen konnte, denn Tio weiß nicht einmal, ob Männer und Frauen hier in einem Haus wohnen. Er hat auch noch niemanden über den Vater von Kivan und Hala reden hören. Es ist deutlich, dass bei den Runji die Frauen das Sagen haben.
»Ich verstehe schon«, entfährt es ihm, »du würdest gerne eine Verschwörung aufdecken und zwei Salzländer als Spione entlarven. Vielleicht würden sie dich dann etwas wichtiger finden. Hat deine Mutter vielleicht nur Augen für deine Schwester, weil sie die Nachfolgerin ist? Wird Hala immer vorgezogen? Und das nicht nur bei euch zu Hause, sondern in ganz Terrasse! Alle verbeugen sich vor deiner Mutter und bald auch vor deiner Schwester, nur vor dir verbeugt sich keiner. Ist doch gemein, was?«
Er sieht die Faust nicht kommen, die ihn plötzlich am Kinn trifft. »Auuu …«, ächzt Tio und beugt sich vor. Doch so weh es auch tut, er ist sich absolut sicher, dass er mit seinen Worten voll ins Schwarze getroffen hat, und ein Gefühl von Triumph überkommt ihn. Kurz sieht es so aus, als ob Kivan ihm auch noch einen Tritt versetzen wollte, er hat schon mit dem Fuß ausgeholt, da hält ihn eine Stimme zurück. Tio versteht die Runjiworte nicht, aber Kivan dreht sich um und antwortet. Tio wartet einen Moment ab, dann richtet er sich mit schmerzverzerrtem Gesicht auf. Er sieht, wie Kivan auf eine ältere Frau zuläuft, ihr etwas aus der Hand nimmt, ihr dann den Arm reicht und neben ihr die steile Brücke hinuntergeht. »Dieser Schleimer!« Vielleicht ist sie seine Großmutter oder eine Nachbarin, auf jeden Fall aber jemand, den Kivan gut kennt. Und offenbar trägt er ihr die Einkäufe nach Hause, der Heuchler.
Tio reibt sich den schmerzenden Kiefer und dreht sich um. Er schaut zum Himmel und sieht in der Ferne die Dämmerung heraufziehen. Er darf sich keine weitere Verspätung erlauben und sieht besser zu, dass er hier verschwindet, bevor Kivan zurückkommt und ihm wieder im Nacken sitzt.
Als Tio Sandbach erreicht, hat sich der Himmel über der kleinen Stadt bereits rosarot verfärbt. Schnell geht er durch die schmalen Gassen und Straßen zum Hafen. Zum Glück ist die Straßenführung von Sandbach überhaupt nicht verändert, und so findet er sich auf Anhieb zurecht.
Ohne groß nachzudenken, geht er auf dem Kai in Richtung Treppe, die ihn in die unbewohnte Welt bringen soll, als ihn eine barsche Stimme aufschreckt.
Er blickt über die Schulter, und Ärger steigt in ihm auf. Wer will ihn denn jetzt schon wieder aufhalten, man kann doch sehen, dass er es eilig hat. Dann erkennt er das Boot, das da festgemacht hat, das rostige Rot und Hellblau, und er sieht den alten Seebär, der Fische gegen Touristen eingetauscht hat. »Oh … Valpa.«
»Was ist denn mit euch passiert?« Valpa beugt sich vor und mustert Tio mit gerunzelter Stirn. Zornig zieht er ein paar Mal an der Pfeife, die er in der Hand hält. »Ich hab eine halbe Stunde länger gewartet, als ausgemacht war, aber ihr seid nicht aufgekreuzt. Ich hatte noch andere Passagiere, also konnte ich nicht endlos am Anleger liegen bleiben! Hättet ihr euch nicht wenigstens schnell abmelden können?«
»Hm, ja«, nuschelt Tio verlegen. Auch wenn es eigentlich nichts gibt, weshalb er sich schämen müsste, spürt er doch, dass seine Wangen rot werden. »Wir wollten ja mit Ihnen
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