Zwischenwelten (German Edition)
Wachen hatten ihn aufgehalten.
»Natürlich mache ich was«, hatte er ihr versichert, »ich sehe zu, dass ich das Geld so schnell wie möglich zusammenbekomme. Wirklich, das verspreche ich.«
»Aber wie lange …« Ayse verschluckte sich. »… Du kannst ja erst morgen zurück sein.«
Die Wachen packten Ayse unter den Armen und trugen sie wie eine zappelnde Puppe mühelos weg.
»He, wartet noch!«, rief Tio und hielt einen von den beiden am Ärmel fest. »Wohin bringen Sie sie und wo muss ich …«
»Das Mädchen wird in den Maile Dhun gebracht, wo die verlangte Bürgschaft bei den Zahlmeistern in den untersten Gewölben entrichtet werden kann. Wenn du willst, kannst du sie morgen beim Umzug sehen. Sehen, aber selbstverständlich nicht sprechen.«
»Beim Umzug?«, hatte Tio verständnislos wiederholt.
»Gefangene werden immer als Mahnung bei der täglichen Prozession der Maile mitgeführt, damit jeder sehen kann, was ihm beim Überschreiten von Vorschriften und Gesetzen droht«, wurde ihm kühl erklärt. »Auf der Mittelterrasse werden das gefällte Urteil und das vorangegangene Vergehen für jeden, der an Ort und Stelle ist, von den Gongschlägern laut und verständlich wiederholt.«
Mit diesen Worten hatten die Wachen Ayse unerbittlich abgeführt, und ihre angstvollen, aber auch wütenden Schreie hinderten sie ebenso wenig daran wie ihre strampelnden Beine.
Jetzt hatte Tio begriffen, was es mit dem verlotterten Haufen auf sich hatte, der im Umzug mitgeschlurft war: Gefangene. Und morgen um zwölf Uhr sollte Ayse dasselbe Schicksal erleiden? Das würde sie bestimmt schrecklich finden! Tio fragt sich, ob es möglich ist, so schnell, so früh zurück zu sein, dass er sie noch vor Beginn des Umzugs freikaufen kann. Dann muss er sich allerdings beeilen. Er muss zu Fuß nach Sandbach zurück, denn Valpas Boot – nicht dass er damit schneller gewesen wäre – hat er verpasst. Es ist schon vor Längerem abgefahren.
Mit hängenden Schultern trottet er durch Terrasse und trabt über Brücken auf der Suche nach dem Weg nach Sandbach, der hier irgendwo abzweigen muss. Was diese Stadt doch für ein Labyrinth ist!
Bei der soundsovielten Brücke wird ihm plötzlich der Weg verstellt. Tio braucht gar nicht aufzublicken, um zu wissen, wer da vor ihm steht, denn aus irgendeinem Grund hat er ihn schon erwartet. »Hallo, Kivan«, nuschelt er unverständlich. »Kommst du, um wieder mal Stunk zu machen, wie beim letzten Mal? Diesmal hilft sicher kein Schwimmwettkampf, was?«
Kivan blickt ihn verständnislos an. »Wovon redest du? Welches letzte Mal?«
»Kommst du, um mich auszulachen?«
»Ich laufe dir schon seit einer ganzen Weile hinterher. Hast du dich verlaufen? Wo willst du hin?«
»Was geht das dich an?«
Kivan presst die Lippen zusammen. Er schweigt kurz, dann sagt er aufgebracht: »Ich vertraue euch nicht, dir und deiner Schwester.«
»Sie ist nicht meine Schwester.« Tio ist sauer. »Warum traust du uns nicht? Was haben wir dir getan?«
»Das ist so ein Gefühl«, murmelt Kivan mühsam auf Salzländisch, das er immer noch nicht gut sprechen kann. »Ich finde euch … seltsam. Wo kommt ihr her? Auf jeden Fall nicht aus Sandbach, das kann ich sehen. Das Mädchen spricht mit Hala, als würde sie sie kennen, du sagst komische Sachen zu mir, als wären wir uns schon einmal begegnet, und ich bin mir absolut sicher, dass das nicht so ist. Und daraus ziehe ich dann eben meine Schlüsse: Ihr beobachtet uns schon länger. Seid ihr Spione?«
Tio muss lachen. »Spione? Mensch, geht das schon wieder los? Ein Spion von zwölf und einer von fast vierzehn Jahren? Wer wird denn Kinder für so eine Aufgabe anheuern, was glaubst du?«
»Die Salzländer. Sehr schlau von ihnen. Einfach weil ich auch vierzehn bin und Hala zwölf, genau wie deine wie-heißt-sie-noch-mal Freundin. Sie haben euch darauf angesetzt, euch mit uns anzufreunden, stimmt’s? Und uns dann alle möglichen Informationen zu entlocken.«
»Welche Informationen denn?«
»Warum habt ihr in den Tempel gespäht?«
»Oh, hast du das auch gesehen? Also bist du uns nachgegangen. Dann weißt du ja auch, was Neugier ist.« Tio verschränkt die Arme, lehnt sich gegen das Brückengeländer und blickt Kivan herausfordernd an. »Das ist alles. Wir waren neugierig, genau wie du.«
»Ist deine Freundin absichtlich in die Quelle getreten? Niemand kann so blöd sein, so was aus Versehen zu machen. Gehört das zu euren Plänen, um sie festnehmen zu lassen? Das ist
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