Zwischenwelten (German Edition)
die Frau, deren Ankunft ihnen verkündet worden ist, sitzt vor ihnen auf einem gewaltigen Stuhl. Man könnte ihn beinahe einen Thron nennen, wären Throne nicht meistens vergoldet und reich verziert, wogegen dieses Exemplar aus glatt geschliffenem Holz ist und klare Formen hat wie ein moderner Entwurf.
»Kommt näher.« Die Maile winkt ihnen.
Zögernd tun Ayse und Tio, was sie verlangt.
Tio mustert die Frau nervös. Er sieht, dass Hala die Augen ihrer Mutter hat, und das beruhigt ihn für einen kurzen Moment. Er hofft, dass sie sich auch charakterlich ähnlich sind.
»Ihr verbeugt euch nicht!«, ertönt eine entrüstete Stimme mit schwerem Runjiakzent.
Tio schaut zur Seite. An einem der Tische im Saal, an denen viele Runji sitzen, entdeckt er Kivan. Der Junge betrachtet die Szene aufmerksam, während er immer wieder einen Schluck aus seinem Becher nimmt. Ab und zu pickt er etwas von einem Teller, das er dann laut schmatzend kaut.
Ist das vielleicht einfach nur ein Speisesaal?, fragt sich Tio, und nicht so eine Art Gerichtssaal, wie er anfangs gedacht hat? Aber vielleicht hat der Raum auch mehrere Funktionen. Tio sieht die Spannung auf den Gesichtern und verbeugt sich steif in Richtung der Maile. Dabei versucht er, Ayse mitzuziehen, doch die weigert sich, rebellisch wie gewöhnlich.
»Das Mädchen verbeugt sich nicht«, stellt die Maile denn auch überrascht fest.
»Ayse!«, zischt Tio.
»Das wäre ja wohl noch schöner«, schnaubt Ayse halsstarrig.
»Warum verbeugt sich das Mädchen nicht?«, will die Maile wissen.
»Darum nicht. Und übrigens heiße ich Ayse.«
Die Maile erblasst. »Will das Mädchen erklären, warum sie sich nicht verbeugt?«
»Weil ich das blöd finde!«, poltert Ayse los. »Warum soll ich mich vor Ihnen verbeugen müssen?«
»Jeder verbeugt sich vor der Maile!«, sagt mit barscher Stimme ein Mann, der bei Kivan am Tisch sitzt. Mit einem scharfen Messer sticht er jähzornig eine traubenartige Frucht von einer Obstschale und steckt sie sich in den Mund.
Tio sieht noch einmal genauer hin und erkennt den kampflüsternen Jabiron, dem er schon einmal begegnet ist. Tio lässt seinen Blick über die Männer und Frauen an den Tischen schweifen und erkennt auch den sanftmütigen etwas älteren Sorin. Tio neigt nochmals den Kopf und richtet sich wieder auf. Schüchtern blickt er der Maile in die Augen und erklärt: »Wir sind keine Runji. Die Gebräuche hier sind uns nicht vertraut.«
»Das lässt sich nicht übersehen«, antwortet die Maile spitz. »Das Mädchen ist mit den Füßen in der Quelle angetroffen worden. Das ist ein ernsthaftes Vergehen.«
»Ja, aber … das haben wir doch nicht gewusst«, versucht Tio seine Freundin zu entschuldigen.
»Trotzdem muss es bestraft werden«, ruft Jabiron von seinem Tisch herüber.
Die Maile wirft ihm einen ärgerlichen Blick zu und sagt kurz etwas in der Sprache der Runji zu ihm, was Tio und Ayse nicht verstehen, doch an ihrer Stimme ist zu hören, dass sie den Mann anschnauzt.
Ein großer, eiskalt wirkender Kerl, der neben Jabiron sitzt, mischt sich kühl in der Sprache der beiden Besucher ein: »Das ist eine gute Gelegenheit, mal wieder ein Exempel zu statuieren. Es sind in der letzten Zeit vermehrt Vergehen aus Unwissenheit oder Gleichgültigkeit begangen worden. Die Touristen müssen wissen, wo ihr Platz ist. Wir öffnen ihnen unsere prächtigen Terrassen, und was machen sie? Sie beschmutzen unsere Brunnen, vergessen, sich zu verbeugen, verderben unser Wasser. Ich beantrage den sofortigen Vollzug einer Strafe.« Er wirft Tio und Ayse einen hochmütigen Blick zu.
»Jawohl«, pflichtet Jabiron ihm bei. »In aller Öffentlichkeit.«
Tio muss an Bücher über frühere Zeiten denken, die er gelesen hat, an öffentliche Hinrichtungen mit Schwertern, an rollende Köpfe, Henker und Beile. Er wird blass und ruft beklommen: »Aber wir haben doch nicht absichtlich etwas Falsches getan!« Er hört selbst, dass seine Stimme klingt wie das Piepsen eines ängstlichen Vogels, und er sieht, wie Ayse mit ungläubigem Gesicht um sich schaut.
»Gut«, stimmt die Maile dem rauen Kerl zu. »Lass einen Strafvollzug für heute Abend sechs Uhr auf der Mittelterrasse verkünden. Nur für das Mädchen, der Junge kann gehen.«
Tio fasst Ayses Hand. Er spürt, wie sie zittert.
»Aber das ist doch lächerlich«, schreit Ayse. Sie wendet sich an Hala. Das Mädchen hat Tio beim letzten Mal geholfen. »Hala, sag du etwas. Wenn du Tio geholfen hast, dann kannst du mir
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