Zwölf im Netz
Doktor von Kapharnaum hat tatsächlich seine Praxis geschlossen, angeblich, weil er sich auf der Hochschule von Tarsus fortbilden läßt. Andere behaupten, daß er Jesus wegen unlauterer Konkurrenz verklagen will. Unlautere Konkurrenz. Da kann ich nur lachen. Was soll denn an dieser Konkurrenz unlauter sein? Wenn's zum Prozeß kommt, weist Jesus an einem Tag mehr Geheilte vor als der Doktor im ganzen Leben kaputtkurieren kann. Ganz abgesehen davon, daß eine Klage gegen ihn einen Volksaufstand entfesseln würde. Der Doktor dürfte sich am See nicht mehr blicken lassen, den würden sie mit all seinen Zangen, Pinzetten, Pillen und Pülverchen zum Teufel jagen. Du, stimmt das eigentlich, daß ihn die Leute gestern zum König ausrufen wollten, oder ist das auch nur ein Gerücht?«
»Es stimmt.«
»Und warum hat er abgelehnt? Hat er euch das nicht verraten?«
»Nein, er zog sich auf den Berg zurück, ohne uns.«
»Nicht einmal dich hat er mitgenommen?«
»Auch den Johannes nicht.«
Die Schwiegermutter dachte einen Augenblick nach. »Ich kann mir denken, warum. So stolz ich auch auf meine Heimat bin, doch für einen solchen Staatsakt sind wir nicht bedeutend genug. Die Proklamation zum König kann nur in Jerusalem geschehen. Darauf müssen wir bestimmt nicht mehr lange warten. Vielleicht am Osterfest, wenn ihn Tausende begeisterte Anhänger aus Galiläa begleiten.«
»Da habe ich meine Zweifel; die Leute lassen sich schnell begeistern, vor allem, wenn sie etwas umsonst kriegen, doch ebenso schnell verlaufen sie sich wieder.«
»Irrtum, meine Liebe, die Leute haben ihn den ganzen Morgen gesucht, wie mir die Levitenwitwe berichtet hat, zu Hunderten sind sie mit Booten die Ufer abgefahren, um ihn zu entdecken. Hatten sie Erfolg?«
»Ja, in der Synagoge von Kapharnaum.«
»Na, Gott sei Dank, sie wären furchtbar enttäuscht gewesen, wenn er sich ihnen ganz entzogen hätte.«
»Sie wurden auch enttäuscht«, sagte er ernst.
»Enttäuscht von ihm? Aber Simon! Das sind doch höchstens die Dummen, die hofften, daß er wieder eine wunderbare Speise anbietet.«
»Das hat er auch.«
»Das wäre wirklich nicht nötig gewesen. In der Stadt gibt es genügend Bäckereien, um selber Brot zu kaufen. Nächstens erwarten sie noch, daß er ihnen jeden Morgen die frischen Semmeln vor die Haustür legt.«
»Du denkst gleich immer praktisch. Diesmal verhielt es sich anders. Er verteilte kein gebackenes Brot wie gestern, sondern er pries das wahre Brot an.«
»Das wahre Brot?«
»Ja, das vom Himmel herabgekommen ist — er selbst. Du kannst dir leicht vorstellen, welche Verwirrung, welchen Tumult dieser Satz hervorrief. Er selber das Brot vom Himmel! Schließlich kennen ja viele seine Familie und wissen, daß sein Vater Joseph heißt, als Zimmermann arbeitet und in Nazareth wohnt.«
»Ja, freilich, jeder weiß das.«
»Er hörte gar nicht auf diese Einwürfe und nahm seine Behauptung nicht zurück, wie sie forderten, sondern er wurde immer kühner; er ist nicht nur das Brot, das vom Himmel herabkommt, sondern dieses Brot ist sein Fleisch. Und das will er uns zu essen geben! Wenn wir sein Fleisch nicht essen, haben wir das Leben nicht in uns. Wenn wir es aber essen, haben wir das ewige Leben, und er wird uns auferwecken am Jüngsten Tag. Und er bleibt in uns und wir in ihm.«
»Das klingt aber sehr rätselhaft, Simon.«
»Rätselhaft? Hart, unerträglich! Es hat ihn auch niemand verstanden. Einer nach dem anderen schlich kopfschüttelnd aus der Synagoge; einige tippten sich an die Stirn, als ob seine Verrücktheit endlich aktenkundig sei; andere warfen wenigstens einen Blick voller Bedauern zurück. Gestern ein Jubel, der nicht enden wollte — und heute ein betretenes, feindseliges Verstummen. Er machte nicht mal den
Versuch, die Leute zurückzuhalten, die ihm scharenweise davonliefen, kein Zugeständnis an ihr Unverständnis. So verließen ihn schließlich auch solche, die ihm bisher zu jeder Predigt gefolgt, die mit ihm durch die Dörfer und Städte gezogen waren und die er zu seinen Jüngern gerechnet hatte.«
»Du auch?«
»Ich starrte stumm und finster auf den Steinboden der Synagoge; ich wollte nicht wahrhaben, wer uns alles im Stich ließ; ich wartete sehnsüchtig auf ein einlenkendes Wort von ihm. Nichts! Endlich fragte er das armselige Häuflein, das in peinlicher Unschlüssigkeit bei ihm ausharrte, fragte uns, ob auch wir Weggehen wollten.«
»Und ihr seid wirklich...«
»Wir doch nicht. Zu wem sollten wir denn
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