Zwölf Wasser Zu den Anfängen
noch? Die Männer sollen graben.«
»Zu Befehl!« Der Soldat grüßte und stapfte zu den Hundeführernund den Männern vom ersten Dienst, die seit Tagesanbruch auf ihren Einsatz warteten und die Schwerter gegen Schaufeln getauscht hatten. Ja, schaufeln mussten sie, das war klar gewesen. Aber nun mussten sie graben, und das war etwas völlig anderes.
Kersted blieb, wo er war, stand bis über die Knie im Schnee und ließ die Kälte an sich hochkriechen. Er beobachtete, wie der Himmel über dem Pfad sich langsam klärte, wie der Grat wieder sichtbar wurde, ein schartiger Schnitt im Himmel, der von Grau zu Blau wechselte. Strahlendes, klares, grausames Blau. Die Farbe der Zeit, die verging. Fünf Schneebläser waren früh am Morgen über die rückseitige, weniger steile Flanke des Berges eingestiegen, die langen Hörner auf den Rücken gebunden. Aber die Schneewechte hatte nicht auf sie gewartet, nicht auf sie hören wollen, auf den Befehl zum Abgang, auf den tiefen Ton ihrer Hörner. Und hatte die Seilschaft auseinandergerissen. Musste sie auseinandergerissen haben. Zu früh war es gewesen. Zu spät würde es sein. Die Zeit kümmerte sich nicht um die Menschen, die gegen sie anhetzten, und verhöhnte die, die zu keiner Bewegung fähig im kalten Dunkel lagen, die Schneelast auf der Brust, und nicht fassen konnten, wie lange es dauerte, bis sie endlich erstickten. Kersted wollte die Zeit packen und sie schütteln, sie zur Vernunft bringen, ihr erklären, dass sie ihn nicht ewig betrügen konnte, ohne dass er darüber verrückt würde. Zu schnell. Zu langsam. Zu schnell war die Lawine gewesen und zu langsam krochen nun die Soldaten mit ihren Schaufeln über die Schneemassen. Kersted spürte seine Beine kaum noch und sein Körper war ein Messinstrument, auf das Verlass war – bald schon war es zu spät für die Verschütteten. Zu spät, zu spät. Die Zeit lief davon und riss das Leben mit sich und Kersted stand still und wartete auf den Tod.
Die Schneebläser kannten die Gefahr, sie wussten, was sietaten. Aber Kersted hatte den Befehl zum Einsteigen gegeben. Er hatte keine Wahl gehabt, er war der Pfadmeister und der Pfad, der über zwei Wegstunden von der Stadt hinunter zur Grotte der Undae führte, musste zu jeder Zeit begehbar sein. Warum eigentlich? Nach dem Sinn zu fragen gehört nicht zu deinen Aufgaben, Soldat.
Kersted schlug sich mit den Fäusten auf die Schenkel, bis er endlich Schmerzen fühlte, hob mit den Händen die Knie an, setzte eiskalte Füße auf glühende Dornen, die nur sein eigenes Blut waren und die Bestrafung seines Körpers für die Tortur, die Kersted ihm zugemutet hatte. Ein Hund hatte angeschlagen.
Einen hatten sie gefunden und er hatte gelebt. Der Mann hatte die Augen zugekniffen, geblendet vom Blau des Himmels, vom Licht der Sonne, die immer noch nicht wärmte. Er hatte auch noch gelebt, als sie ihn vorsichtig auf die Trage hoben. Aber dann konnten sie nicht schnell genug sein. Anderthalb Wegstunden waren es von der Abgangsstelle zur Stadt, und lange bevor sie dort ankamen, hatte das kalte Blut aus Armen und Beinen sein Herz erreicht und es hatte aufgehört zu schlagen.
Kersted lenkte als Letzter im Leichenzug sein Nukk Richtung Tor. Oben auf dem Wall stand, aufrecht wie ein langer schwarzer Zahn, der Offizier der Wache. Er lief der Zeit niemals hinterher und hoffte auch nicht, dass sie schnell vorübergehen möge. Der Offizier der Wache hatte seine eigene Zeit gefunden und ging mit ihr im Gleichschritt über den Wall, jeden Tag. Eine Bö erfasste ihn und warf ihm die Haare über die Schultern, aber den Pelzmantel, den er über der Rüstung trug, rührte sie nicht an – das Fell war steif gefroren.
Felt wusste längst, was geschehen war, alle wussten es, denn Kersted hatte einen Boten geschickt, damit dem Verschüttetenein Bad bereitet wurde. Dann aber hatte er noch einen Boten schicken müssen und Felt wusste auch, dass der junge Kamerad das als Niederlage empfand. Kersted war so diszipliniert, wie jeder welsische Soldat es sein sollte, und er war darüber hinaus begabt, sonst hätte ihn der Hauptmann nicht so früh in einen so hohen Dienstgrad gehoben. Aber Kersted liebte das Leben mehr als jeder andere und diese Lebenslust bürdete ihm eine zusätzliche Last auf. Er litt unter jedem Verlust. Er konnte sich an den Tod nicht gewöhnen.
Felt sah den Zweifel in Kersteds Gesicht, als der zu ihm aufblickte, er sah die Frage nach dem Sinn in den blauen Augen des Pfadmeisters
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