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Zwölf Wasser

Zwölf Wasser

Titel: Zwölf Wasser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: E. L. Greiff
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wäre er nicht mehr. Der Letzte, der Einsame, würde über die Schlachtfelder des Kontinents irren, nichts verstehen und nichts empfinden. Marken griff nach dem kleinen Beutel mit Quellwasser um seinen Hals und hoffte inständig, dass nicht er dieser Letzte sein würde, sondern vorher gehen durfte.
    »Die Gelegenheiten zu sterben werden jeden Tag zahlreicher.« Smirn hatte seine Geste bemerkt und verstanden. »Aber noch solltest du dich nicht nach dem Tod sehnen, Marken. Er jedoch tut es. Hauptmann Ormn ist bereit für den Tod, die Münze zeigt es an.«
    Sie ging wieder auf und ab und sprach dabei weiter.
    »Hauptmann Ormn verbirgt seine Sehnsucht nach dem Tod nicht, er trägt sie auf der Stirn: Die Münze über dem Auge ist das Zeichen, dass er die Reise auf der Straße der Toten jederzeit antreten kann. Es ist der Wegezoll, allerdings nur symbolisch. Du weißt es selbst, Marken, dass ein einziger Petten eine Herde Ghajels nicht sättigen würde.«
    Ein winziges Lächeln huschte über ihr Gesicht, dann war sie wieder ernst.
    »Ormn ist ein Dhurmmet und das bedeutet: Einer, der sich nach dem Tod sehnt . Das ist ein großes Bekenntnis; Ormn hat sich Ruhm erworben. Denn nur wer viel geleistet hat, wer seinem Vater und seinen Vorvätern große Ehre gemacht hat, darf seinen Wunsch nach Ruhe so offen aussprechen. Die Münze zu tragen ist die höchste Auszeichnung, die ein kwothischer Kämpfer erlangen kann.«
    »Sagtest du nicht, er sei ein Veteran? Wo hat er gekämpft? Wo hat er sich seinen Ruhm erworben?«
    »In der Feuerschlacht.«
    »Wie kann das sein? Das ist über hundert Soldern her!« Marken konnte es nicht glauben: »Smirn, selbst wenn Ormn damals noch sehr jung war, wäre er heute mindestens hundertzwanzig Soldern alt!«
    »Damals war er bereits alt, zumindest für welsische Begriffe. Er wird sechzig, vielleicht siebzig gewesen sein, als er für Horghad und Silhad in die Schlacht zog   – ein erfahrener Mann. Aber lange noch kein Greis. Du musst wissen, Marken, dass es für einen Kwother nicht ungewöhnlich ist, die Hundert zu überschreiten. Doch obwohl die Zeit einem kwothischen Mann das Leben langsamer nimmt als bei anderen Völkern, ist es irgendwann vorbei. Hauptmann Ormn jedoch scheint von der Zeit vergessen worden zu sein.«
    Marken spürte, wie ihm sein Pulsschlag im Hals klopfte. Lag das an Smirns Worten oder an diesem schwarzen Gebräu, das ihm mit einem Mal wie Gift vorkam? Es schien seine Glieder zu lähmen   – er empfand eine Schwere in Armen und Beinen   –, aber sein Denken genauso zu beschleunigen wie seinen Herzschlag.
    »Ihn hast du gesucht, nicht wahr?«, fragte er. »In der Totenstadt, da hast du das Grab von Hauptmann Ormn gesucht, oder?«
    Auf Smirns dunklem Gesicht war keine Regung zu erkennen und sie sprach nur gerade so laut, um das Geschrei der Straße zu übertönen.
    »Ich habe nicht seins gesucht, obwohl ich erleichtert gewesen wäre, es zu finden. Ich habe irgendeins gesucht   – nur eine einzige Ruhestätte eines einzigen Soldaten der Feuerschlacht wollte ich finden. Mehr als zwei Dutzend Inschriften habe ich gelesen, und unter jedem Stein liegen viele Generationen. Du erinnerst dich: Die Söhne werden auf den Vätern beigesetzt, alle gehen denselben Weg … Marken, ich habe viele hundertin die Steine gemeißelte Namen und Daten gelesen und ich hätte weiterlesen können, hätte die ganze Totenstadt durchsuchen können, aber meine Ahnung war längst Gewissheit: In Kwothien wurde schon lange nicht mehr gestorben. Die, die vor über hundert Soldern in der Feuerschlacht kämpften, die das Land und die Welsen verbrannten, leben noch heute.«
    Marken fand nicht die Kraft, um sich von dem flachen Kissen zu erheben, auf dem er saß. Langsam strich er sich über den Schädel, in dessen Innerem die Gedanken rasten. Der Hauptmann sah aus wie sechzig, tatsächlich war er aber hundertsechzig oder noch älter. Und der Alte? Sein Vater? War das am Ende   …
    »Smirn«, stieß Marken hervor, »der alte Soldat, der solche Ähnlichkeit mit Ormn hat, ist in Wahrheit nicht sein Vater …«
    »… sondern sein Sohn«, vervollständigte Smirn den Satz und zog sich ihre Kapuze über, als müsse sie sich schützen vor den unsichtbaren Kräften, die in Kwothien die Welt auf den Kopf stellten.
11
    Sie kamen schnell voran. Während die Stadtbewohner unter dem Schutz vieler Soldaten in einem nicht enden wollenden Strom über die Hauptstraße langsam nach Jirdh zogen, galoppierte auf einem alten

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