Zyklus der Erdenkinder 02 - Ayla und das Tal der Pferde
zu Gleich spricht und
menschliches Verständnis heischt, fuhr der Heilkundige fort: »Sag mir, wer von beiden bin ich, Jondalar? Welchen von
beiden würdest du zum Gefährten nehmen? Manche versuchen,
so oder so eine Beziehung zu finden, doch von längerer Dauer
ist sie selten. Gaben sind nicht unbedingt ein reiner Segen. Ein Heilkundiger besitzt keine Identität, nur im weitesten Sinne. Der Name, den er ursprünglich erhalten hat, wird von ihm zurückgegeben; der Shamud löscht sein Selbst aus, um das Wesen aller anzunehmen. Es gibt auch für ihn Vorteile, doch
das Heiraten gehört im allgemeinen nicht dazu.
Wenn man jung ist, ist es nicht unbedingt wünschenswert, für
ein besonderes Schicksal auserkoren zu sein. Es ist nicht einfach,
anders zu sein. Man möchte seine Identität nicht verlieren.
Doch das ist gleichgültig – das Schicksal gehört zu einem. Es
gibt keinen anderen Platz für jemand, der das Wesen von Mann
und Frau in seinem Körper vereinigt.«
Im schwindenden Schein des Feuers sah der Shamud uralt aus
wie die Erde selbst; er starrte blicklos in die Glut, gleichsam als
schaue er eine andere Zeit und einen anderen Ort. Jondalar
erhob sich, um noch ein paar Stücke Holz zu holen und
entfachte dann das Feuer zu neuem Leben. Als die Flammen
wieder aufflackerten, straffte der Heiler sich, und der ironische
Ausdruck kehrte in sein Gesicht zurück. »Aber das ist lange her,
und es hat … Entschädigung gegeben. Es ist nicht die geringste,
die eigene Begabung zu entdecken und Wissen zu sammeln.
Wenn die Mutter einen zum Dienst an Ihr ruft, ist das nicht nur
ein Opfer.«
»Bei den Zelandonii wissen nicht alle, die der Mutter dienen,
schon in ihrer Jugend darum. Nicht alle wie Shamud. Ich einst
gedacht, Doni dienen. Nicht alle berufen«, sagte Jondalar, und
den Shamud erstaunte es nicht wenig zu sehen, wie seine Lippen
schmal wurden und seine Stirn sich in Falten legte – Dinge, die
eine Bitterkeit verrieten, die noch immer schmerzte. Tief in
diesem jungen Mann, der mit allen denkbaren Vorzügen
gesegnet schien, gab es offensichtlich Wunden, die er nicht
preisgab.
»Ja, stimmt, nicht alle, die es sich wünschen, sind berufen,
und nicht alle, die berufen sind, gebieten über die gleichen
Gaben – oder Neigungen. Ist man sich nicht sicher, gibt es
Mittel und Wege, dahinterzukommen, den eigenen Glauben
und Willen auf die Probe zu stellen. Ehe man in die Heilkunst
eingeführt wird, muß man eine Zeitlang ganz allein leben. Das
kann erhellend sein, aber es kann auch sein, daß man mehr über
sich selbst erfährt, als einem lieb ist. Ich rate denen, die daran
denken, in den Dienst der Mutter zu treten, oft eine Zeitlang
allein zu leben. Bringen sie das nicht fertig, werden sie nie
imstande sein, die härteren Prüfungen zu bestehen.«
»Was für Prüfungen?« Nie zuvor war der Shamud so freimütig
mit ihm gewesen. Jondalar lauschte wie gebannt.
»Zeiten der Enthaltsamkeit, in denen wir allen Freuden
entsagen müssen; Zeiten des Schweigens, da wir an keinen
Menschen das Wort richten dürfen; Zeiten des Fastens und
Zeiten, in denen wir solange es irgendwie geht, auf den Schlaf
verzichten müssen. Es gibt auch noch andere. Wir lernen diese
Methoden einzusetzen, um Antworten zu erhalten,
Offenbarungen von der Mutter, insbesondere jene, die noch
lernen. Nach einiger Zeit lernt man, sich willentlich in den
jeweils erforderlichen Zustand zu versetzen, doch ist es stets von
Nutzen, sich ab und zu darin zu üben.«
Es folgte ein langes Schweigen. Der Shamud hatte es
fertiggebracht, das Gespräch behutsam an das eigentliche
Problem, an die Antworten, um die es Jondalar ging,
heranzuführen, er brauchte nur zu fragen. »Du weißt, was Not
tut. Kann der Shamud mir sagen, was … all dies … bedeutet?«
Jondalar vollführte eine allumfassende Gebärde mit dem Arm. »Ja, ich weiß, was du willst. Nach dem, was heute abend
geschehen ist, machst du dir Sorgen um deinen Bruder und in einem weiteren Sinne um ihn und Jetamio – und dich selbst.« Jondalar nickte. »Nichts ist gewiß … das weißt du.« Jondalar nickte abermals. Der Shamud blickte ihn eindringlich an, gleichsam als wolle er sich schlüssig werden, wieviel er ihm enthüllen könne. Dann wandte er das alte Gesicht dem Feuer zu, und wieder hatte er diesen blicklosen Ausdruck in den Augen. Der junge Mann spürte, wie er sich entfernte, als ob plötzlich eine große Entfernung zwischen sie gelegt worden
wäre; dabei hatte sich keiner von beiden von der Stelle bewegt.
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