Zyklus der Erdenkinder 02 - Ayla und das Tal der Pferde
»Die Liebe zu deinem Bruder ist stark.« Seine Stimme hatte
einen unheimlichen hohlen Klang, wie ein jenseitiges Echo. »Du
hast Angst, daß sie zu stark ist, fürchtest, sein Leben zu führen
und nicht dein eigenes. Du irrst. Er führt dich, wohin du gehen
mußt, nur allein nie hingehen würdest. Du folgst deinem
eigenen Schicksal, nicht seinem; ihr legt nur eine Strecke Wegs
gemeinsam zurück.
Deine Kräfte sind anderer Art. Du besitzt große Kraft, wenn
dein Bedürfnis groß ist. Ich selbst habe, ehe wir sein blutiges
Hemd an dem Ast fanden, der mir geschickt wurde, gefühlt, wie
sehr du mich für deinen Bruder brauchtest.«
»Ich habe den Ast nicht geschickt. Das war Zufall, Glück.« »Es war kein Zufall, daß ich spürte, wie sehr du mich
brauchtest. Das haben auch andere gespürt. Du kannst nicht
geleugnet werden. Nicht einmal die Mutter würde sich dir
versagen. Das ist die Gabe, die dir gegeben worden ist. Nur sei
dir bewußt, was für eine Gabe der Mutter das ist. Sie bewirkt,
daß Sie in deiner Schuld steht. Wo Sie dich mit einer so starken
Begabung beschenkt hat, muß Sie etwas Besonderes mit dir im
Sinn haben. Nichts wird ohne Verpflichtung gegeben. Selbst Ihr
Geschenk der Lust entspringt nicht reiner Großmut; damit wird
ein Ziel verfolgt, ob wir das wissen oder nicht …
Vergiß eines nicht: Du dienst dem Zweck der Mutter. Du
brauchst keine Berufung; diesem Schicksal bist du von Geburt
an geweiht worden. Gleichwohl wirst du geprüft werden. Um
dieses Schicksals willen wirst du Schmerzen verursachen und
leiden …«
Die Augen des jungen Mannes weiteten sich vor
Überraschung.
»… du wirst verletzt werden. Du wirst Erfüllung suchen und
Enttäuschung finden; du wirst nach Sicherheit suchen und
nichts finden als Unentschiedenheit. Doch gibt es auch
Entschädigungen. Du bist wohl ausgestattet an Leib und Geist,
du verfügst über besonderes Können, einzigartige Talente, und
bist mit mehr als gewöhnlichem Feingefühl ausgestattet. Daß
dich soviel bekümmert, ist nur die Folge dieser vielseitigen und
großen Fähigkeiten. Dir ist zuviel gegeben worden. Du mußt
lernen, indem du versuchst.
Vergiß vor allem eines nicht: Der Mutter zu dienen, bedeutet
nicht nur Opfer. Du wirst finden, wonach du suchst. Es ist dein
Schicksal.«
»Aber … Thonolan?«
»Ich spüre einen Bruch; dein Schicksal liegt woanders. Er muß
seinem eigenen Weg folgen. Er ist ein Liebling der Mudo.« Jondalar runzelte die Stirn. Die Zelandonii drückten sich
ähnlich aus, doch bedeutet das nicht unbedingt Glück. Es hieß,
Die Große Erdmutter sei eifersüchtig auf Ihre Lieblinge und
rufe sie früh zu Sich zurück. Er wartete, doch der Shamud sagte
nichts mehr. Er begriff nicht alles, was es mit »Bedürfnis« und
»Macht« und »Zweck der Mutter« auf sich hatte. Diejenigen,
Die im Dienst Der Mutter standen, sprachen oft mit einem
Schatten auf ihrer Zunge – und das gefiel ihm gar nicht. Als das Feuer wieder niedergebrannt war, stand Jondalar auf,
um sich zurückzuziehen. Er starrte zu den Unterkünften ganz
hinten unter dem Überhang hinüber, doch der Shamud war
noch nicht ganz fertig.
»Nein! Nicht die Mutter und das Kind …« rief die flehentliche
Stimme hinaus ins Dunkel.
Der völlig überraschte Jondalar spürte, wie ihm ein Schauder
über den Rücken lief. Er überlegte, ob Tholie und ihr Baby wohl
schlimmere Verbrennungen davongetragen hatten, als er
gemeint hatte, und warum er erschauerte, obwohl es doch gar
nicht kalt war.
12
»Jondalar!!« Markeno grüßte ihn. Der große blonde Mann wartete, daß der andere große Mann ihn einholte. »Finde einen Vorwand, heute abend nicht hinaufzugehen«, sagte Markeno halblaut. »Thonolan hat seit dem Fest des Versprechens genug an Einschränkungen und Ritualen über sich ergehen lassen müssen. Es wird Zeit, daß er ein wenig entspannt.« Er nahm den Stöpsel vom Wasserbeutel, ließ Jondalar an dem Heidelbeerwein schnuppern und bedachte ihn mit einem listigen Lächeln.
Der Zelandonii nickte und erwiderte das Lächeln. Es gab Unterschiede zwischen seinen Leuten und den Sharamudoi, doch manche Sitten und Gebräuche waren offensichtlich weit verbreitet. Er überlegte, ob die jüngeren Männer wohl ein ›Ritual‹ eigener Art planten. Als die beiden Männer den Pfad hinunterschritten, paßten sie ihre Gangart einander an.
»Wie geht es Tholie und Shamio?«
»Tholie befürchtet, daß Shamio eine Narbe auf dem Gesicht zurückbehält, aber beide sind auf dem Weg der Besserung. Serenio
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