Zyklus der Erdenkinder 02 - Ayla und das Tal der Pferde
des Flusses war nicht mehr ihr Ziel. Auch standen sie immer noch nicht auf richtig festem Boden, hatten das Delta immer noch nicht ganz hinter sich. Früher hatte die Sandbank, auf der sie standen, in der Mitte des Seitenarms gelegen, doch inzwischen hatte dieser sich verschoben. Es galt noch ein leeres Flußbett zu überqueren.
Ein hohes bewaldetes Ufer, das dergestalt ausgewaschen worden war, daß die Wurzeln freilagen, winkte von der anderen Seite des verlassenen Flußbettes. Freilich war dieses noch nicht lange wasserlos. Immer noch standen Lachen und Pfützen in der Mitte, und die Vegetation hatte bis jetzt kaum Fuß gefaßt. Dafür hatten Insekten die stehenden Wasserreste gefunden, und jetzt hatte ein Mückenschwarm die beiden nackten Männer entdeckt.
Thonolan band ihre Kleider vom Baumstamm los. »Wir müssen immer noch durch diese Pfützen hindurch, und das Ufer sieht ziemlich verschlammt aus. Laß uns die Sachen erst anziehen, wenn wir drüben sind.«
Jondalar nickte zustimmend; er hatte viel zu große Schmerzen, um zu streiten. Außerdem befürchtete er, sich beim Schwimmen etwas ausgerenkt zu haben. Er hatte Mühe, aufrecht zu stehen.
Thonolan schlug nach einer Mücke, als sie den sanften Hang hinunterliefen, der einst vom Ufer zum Rand des Wassers hinuntergeführt hatte.
Man hatte es ihnen oft genug eingebleut: Dem Fluß nie den Rücken zukehren, nie den Großen Mutter Fluß unterschätzen! Obwohl dieser das Flußbett vorübergehend verlassen hatte, es gehörte immer noch ihm, und jetzt hatte er eine Überraschung für die beiden bereit. Millionen Tonnen Sickerstoffe waren zum Meer hinuntergeschwemmt worden und hatten sich dort Jahr für Jahr über tausende Quadratkilometer Delta verteilt. Das verlassene Flußbett, das jedoch bei Flut überschwemmt wurde, bildete einen schlammigen Salzsumpf, dessen Feuchtigkeit kaum versickerte. Das neue grüne Gras und die Binsen wurzelten in feuchtem Sickerboden.
Die beiden Männer glitschten und rutschten auf dem feinkörnigen klebrigen Schlamm den Hang hinunter, und als sie unten ankamen, saugte er an ihren nackten Füßen. Thonolan eilte voraus und vergaß, daß Jondalar behindert war und nicht wie sonst weit ausgreifend vorwärtsstürmen konnte. Er konnte zwar gehen, doch der schlüpfrige Marsch hinunter hatte ihm Schmerzen bereitet. Bedächtig suchte er sich aus, wo er hintreten konnte, und kam sich ein wenig albern vor, wie er nackt durch diesen Salzsumpf marschierte und den hungrigen Insekten die bloße Haut darbot.
Thonolan war so weit vorausgeeilt, daß Jondalar schon nach ihm rufen wollte. Er blickte im selben Augenblick auf, da er seines Bruders Hilfeschrei hörte, und sah ihn zu Boden gehen. Aller Schmerz war vergessen. Angst packte ihn, als er Thonolan im Schwemmsand wanken sah.
»Thonolan! Große Mutter!« rief Jondalar und lief auf ihn zu.
»Bleib zurück, sonst versinkst du auch noch!« Thonolan, der versuchte, sich aus dem Schwemmsand herauszuwühlen, sank statt dessen nur immer tiefer.
Gehetzt blickte Jondalar sich nach etwas um, um Thonolan herauszuhelfen. Sein Überwurf! Ich könnte ihm ein Ende zuwerfen, dachte er, doch dann fiel ihm ein, daß das unmöglich war. Das Kleiderbündel war verloren. Er schüttelte den Kopf, dann sah er den Stumpf eines alten, halb im Schlamm vergrabenen Baums und lief hin, um nachzusehen, ob er eine der Wurzeln abbrechen könne, doch waren alle, die sich lösen ließen, auf der hektischen Reise flußabwärts längst abgegangen.
»Thonolan, wo ist das Kleiderbündel? Ich brauche etwas, um dich rauszuziehen!«
Die Verzweiflung, die aus Jondalars Stimme sprach, hatte eine unerwünschte Wirkung. Sie filterte Thonolans Panik und erinnerte ihn an seinen Kummer. Ruhige Schicksalsergebenheit kam über ihn. »Jondalar, wenn die Mutter mich holen will, soll Sie mich haben.«
»Nein! Thonolan, nein! Du kannst nicht einfach aufgeben. Du darfst nicht einfach sterben. Ach, Mutter, Große Mutter, laß ihn nicht einfach so zugrunde gehen!« Jondalar sank auf die Knie, reckte sich, soweit er konnte und streckte Thonolan die Hand hin. »Nimm meine Hand, Thonolan, bitte, nimm meine Hand!« flehte er.
Thonolan war überrascht, diesen Schmerz und dieses Leid im Gesicht seines Bruders zu sehen – dies und noch etwas, was er zuvor nur ganz gelegentlich bei ihm bemerkt hatte. Doch in diesem Augenblick wußte er, was es war. Sein Bruder liebte ihn, liebte ihn, wie er Jetamio geliebt hatte. Zwar war es nicht dasselbe, aber eine Liebe, die
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