Zyklus der Erdenkinder 02 - Ayla und das Tal der Pferde
Farbspektrum zergliederte; Ayla hielt die Luft an beim Anblick des Regenbogens, den sie auf den Boden warf. Sie hatte nie zuvor ein Bergkristall gesehen.
Genauso wie die Feuersteine und viele andere Gesteinsbrocken, die den Uferstreifen bedeckten, war auch der Bergkristall vom Wasser hierhergetragen worden – stammte also nicht von hier. Der schimmernde Stein war durch die womöglich noch größere Kraft jenes Elements, dem es ähnelte – dem Eis – aus der Stätte seiner Entstehung herausgebrochen und durch das Schmelzwasser heruntergetragen worden, bis er an der Schwemmschwelle des Gletscherstroms zu Boden gesunken war.
Plötzlich kroch Ayla eine Kälte über den Rücken, die noch kälter war als Eis; sie mußte sich setzen, so durcheinander war sie; sie mußte über die Bedeutung des Steins nachdenken. Da war etwas, was Creb ihr vor langer Zeit einmal erzählt hatte, damals, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war …
Es war Winter, und die alte Dorv hatte Geschichten erzählt. Ayla hatte über die Legende nachsinnen müssen, die Dorv gerade beendet hatte, und Creb gefragt. Das hatte zur Erklärung des »Totems« geführt.
»Totems brauchen einen Ort zum Leben. Wahrscheinlich würden sie sich von Leuten abwenden, die allzu lange heimatlos umherziehen. Du möchtest doch nicht, daß dein Totem dich im Stich läßt, nicht wahr?«
Ayla faßte nach ihrem Amulett. »Aber mein Totem hat mich nicht verlassen, obwohl ich allein war und keine Heimat hatte.«
»Da hat es dich nur auf die Probe stellen wollen. Schließlich hat es eine Heimstätte für dich gefunden, oder? Der Höhlenlöwe ist ein starkes Totem, Ayla. Er hat dich erwählt, und vielleicht hat er beschlossen, dich immer zu beschützen, weil er dich erwählt hat – aber mit einem Zuhause sind alle Totems glücklicher. Wenn du gut aufpaßt, wird es dir helfen. Es wird dir zu verstehen geben, was am besten ist.«
»Woher soll ich das wissen, Creb?« fragte Ayla. »Ich habe nie den Geist eines Höhlenlöwen gesehen. Woran erkennt man es, wenn das Totem einem etwas sagt?«
»Den Geist deines Totems kannst du nicht sehen, weil er Teil von dir ist, in dir. Trotzdem wird er es dir sagen. Du mußt nur lernen zu verstehen. Wenn du eine Entscheidung treffen mußt, wird er dir helfen. Er wird dir ein Zeichen geben, wenn du die richtige Entscheidung getroffen hast.«
»Was für ein Zeichen denn?«
»Das ist schwer zu sagen. Für gewöhnlich wohl etwas Besonderes oder Ausgefallenes. Vielleicht ein Stein, wie du ihn nie zuvor gesehen hast, oder eine besonders geformte Wurzel, die bedeutungsvoll für dich ist. Du mußt lernen, mit dem Herzen und dem Gemüt zu verstehen, nicht nur mit Augen und Ohren; dann wirst du es wissen. Aber wenn die Zeit kommt und du auf ein Zeichen stößt, das dein Totem hinterlassen hat, steck es in dein Amulett. Es wird dir Glück bringen.«
Höhlenlöwe, schützt du mich immer noch? Ist dies ein Zeichen? Gibst du mir zu verstehen, daß ich in diesem Tal bleiben soll?
Ayla hielt den funkelnden Kristall in der Schale beider Hände und schloß die Augen; sie versuchte sich zu versenken, so wie Creb es immer getan hatte; versuchte, mit dem Herzen zu lauschen und mit dem Gemüt; versuchte, sich zu der Überzeugung durchzuringen, daß ihr großes Totem sie nicht verlassen hatte. Sie dachte über die Art und Weise nach, wie sie gezwungen worden war fortzugehen, dachte an die langen Tage des Umherwanderns, da sie nach ihren Leuten Ausschau gehalten und sich nach Norden gewandt hatte, so wie Iza es ihr gesagt. Gen Norden, bis …
Die Höhlenlöwen! Mein Totem hat sie mir geschickt, damit ich nach Westen abbiege und dieses Tal hier finde. Es wollte, daß ich darauf stoße. Meinem Totem ist es leid umherzuwandern und möchte, daß dies hier auch sein Zuhause sei! Hier, an diesem Ort, fühlt es sich wohl. Mein Totem ist immer noch bei mir! Es hat mich nicht verlassen!
Als sie dies verstand, löste sich eine gewaltige Spannung in ihr, von der sie gar nicht gewußt hatte, daß sie überhaupt dagewesen war. Lächelnd zwinkerte sie, um die Tränen zurückzuhalten; dann löste sie die Knoten in dem Riemen, mit dem der kleine Beutel zusammengehalten wurde. Sie schüttete den Inhalt des Beutels aus und nahm eines nach dem anderen zur Hand.
Das erste war ein Brocken roter Ocker. Jeder Clansangehörige trug ein Stück des heiligen roten Steins bei sich; das war das erste, was zum Amulett eines jeden dazugehörte; sie erhielten es an dem Tag, da der
Weitere Kostenlose Bücher