Zyklus der Erdenkinder 04 - Ayla und das Tal der Grossen Mutter
Dingen wie Speeren nur wenig zu tun. Die Erscheinung, die sie sah, war keine Frau; dessen war sie sicher. In einem Moment plötzlicher Klarheit erkannte sie die ganze Ungeheuerlichkeit ihrer Schandtaten, und sie sah die Gestalt, die sich ihr näherte, eine der Verkörperungen der Mutter, eine Munai, die als Rachegeist erschienen war, um Vergeltung zu fordern. In ihrem tiefsten Inneren begrüßte Attaroa beinahe die Erscheinung; es war eine Erlösung, den Alptraum dieses Lebens zu beenden.
Die Anführerin war nicht die einzige, die durch die seltsame Pferdefrau in Angst und Schrecken versetzt wurde. Jondalar hatte versucht, es ihnen zu erklären; doch keiner hatte ihm geglaubt. Noch nie hatte sich jemand einen Menschen auf einem Pferd vorstellen können; es tatsächlich zu sehen, war schwer zu verarbeiten. Aylas plötzliches Auftauchen hatte auf jede der Frauen eine andere Wirkung. Für einige war sie nur ein furchteinflößendes eigenartiges Geschöpf; andere erblickten in ihrem unheimlichen Erscheinen ein Zeichen der Mächte der Unterwelt, das sie mit der Vorahnung kommenden Unheils erfüllte. Viele von ihnen sahen in ihr das, was Attaroa in ihr sah: eine persönliche Nemesis, ein Spiegelbild ihres eigenen schlechten Gewissens. Durch Attaroa ermutigt oder gezwungen, hatte mehr als eine von ihnen sich zu Gewalttaten hinreißen lassen, sie geduldet oder begünstigt, an die sie in den stillen Stunden der Nacht nur mit tiefer Scham und Angst vor Vergeltung zurückdenken konnte.
Selbst Jondalar hatte sich für einen Augenblick gefragt, ob Äyla aus der nächsten Welt zurückgekommen sei, um sein Leben zu retten. Er war überzeugt davon, daß es in ihrer Macht gestanden hätte. Er beobachtete, wie sie sich ohne Eile näherte, nahm jede Kleinigkeit an ihr wahr, sorgfältig und liebevoll, genoß aus ganzem Herzen den Anblick, den er nie wieder zu sehen befürchtet hatte: die Frau, die er liebte, auf ihrer Stute reitend. Ihr Gesicht hatte sich in der Kälte gerötet, einige Haarsträhnen hatten sich gelöst und flatterten im Wind. Der warme Atem der Frau und des Pferdes schlug sich in kleinen Wolken nieder; und Jondalar wurde sich plötzlich der Tatsache bewußt, daß er nackt war und vor Kälte zitterte.
Ayla trug ihren Gürtel über ihrer Felljacke. In einer Schlaufe steckte der aus dem Stoßzahn eines Mammuts gefertigte Dolch - ein Geschenk Taluts - neben dem mit einem Elfenbeingriff versehenen Feuersteinmesser, das Jondalar für sie gemacht hatte, und seiner Axt. Der Medizinbeutel aus Otterfell hing über ihrer Schulter.
Mit lässiger Anmut auf die Frauen zureitend, erweckte Ayla den Eindruck unbekümmerter Selbstsicherheit; Jondalar bemerkte ihre gespannte Aufmerksamkeit. Sie hielt ihre Schleuder in der rechten Hand, und er wußte, wie schnell sie
damit war. Mit der linken Hand, die zwei Steine umschlossen hielt, stützte sie einen Speer, der in ihrer Speerschleuder lag und schräg von ihrem rechten Bein über Winnies Widerrist ragte. Weitere Speere steckten in einem aus Riedgras geflochtenen Köcher.
Ayla beobachtete beim Näherkommen das Gesicht der Anführerin, auf dem sich Entsetzen und Furcht abzeichneten. Doch als sich die Entfernung zwischen den beiden Frauen weiter verringerte, verdüsterten wieder dunkle Schatten den verwirrten Geist Attaroas. Sie kniff die Augen zusammen, um die blonde Frau genauer zu betrachten; dann lächelte sie - ein schlaues, berechnendes, böses Lächeln.
Ayla war noch nie dem Wahnsinn begegnet; aber sie deutete das Mienenspiel auf Attaroas Gesicht und begriff, daß die Frau, die Jondalar bedrohte, jemand war, vor dem man sich in acht nehmen mußte; sie war eine Hyäne. Die Frau auf dem Pferd hatte viele Raubtiere getötet und wußte, wie unberechenbar sie sein konnten. Aber es waren nur die Hyänen, die sie haßte. Sie waren für sie eine Verkörperung des Bösesten im Menschen; Attaroa war eine Hyäne, eine gefährliche Manifestation des Bö-sen, jemand, dem man nie und nirgends trauen konnte.
Aylas Blick war auf die Anführerin gerichtet, doch behielt sie auch die anderen Frauen im Auge, einschließlich der Wolfsfrauen. Als Winnie nur noch ein paar Schritte von Attaroa entfernt war, nahm Ayla am Rande ihres Sehfeldes eine verstohlene Bewegung wahr. In einem blitzschnellen Bewegungsablauf lag ein Stein in ihrer Schleuder, wurde herumgewirbelt und flog durch die Luft.
Epadoa schrie vor Schmerz auf und griff nach ihrem Arm, während ihr Speer auf den gefrorenen Boden fiel.
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