Zyklus der Erdenkinder 06 - Ayla und das Lied der Höhlen
herausfinden, was jemandem fehlte, der über unbestimmte Beschwerden klagte. Wenngleich Iza es nicht erklären konnte, verschaffte es ihr doch einen Eindruck davon, wie unterschiedlich der Clan und die Anderen dachten.
Viele in Bruns Clan glaubten, das Mädchen der Anderen in ihrer Mitte wäre nicht besonders gescheit, weil es sich nicht so rasch oder gut erinnern konnte wie sie. Iza hatte erkannt, dass Ayla nicht weniger klug war, sondern nur auf eine andere Weise dachte. Auch Ayla hatte das begriffen. Wenn Menschen der Anderen die Leute vom Clan als nicht sehr schlau bezeichneten, versuchte sie zu erklären, dass deren Klugheit nur auf andere Weise zum Ausdruck kam.
Ayla kehrte auf dem Pfad zu einer Stelle zurück, die sie sich besonders gemerkt hatte. Der Weg durch den Wald führte über eine kleine Erhebung und mündete auf einer Wiese mit kurzem Gras und Gebüsch. Schon beim Vorbeireiten war sie Ayla aufgefallen, und als sie nun näher kam, nahm sie den köstlichen Duft reifer Erdbeeren wahr. Sie band die Tragedecke los, breitete sie auf dem Boden aus und legte Jonayla darauf. Dann pflückte sie eine der winzigen Beeren, drückte sie ein bisschen zusammen, damit der süße Saft austrat, und steckte sie der Kleinen in den Mund. Jonaylas erstaunter und neugieriger Ausdruck brachte Ayla zum Lächeln. Sie steckte sich selbst einige Beeren in den Mund, gab der Kleinen noch eine und schaute sich nach etwas um, worin sie die Erdbeeren mitnehmen konnte.
Nicht weit entfernt wuchsen Birken. Ayla bedeutete Wolf, auf Jonayla aufzupassen, und nahm die Bäume näher in Augenschein. An einigen löste sich bereits die Rinde. Sie riss mehrere breite Streifen ab, trug sie zu Jonaylas Decke und zog das Messer, das Jondalar ihr vor kurzem geschenkt hatte, aus der Scheide an ihrem Hüftriemen. Das Messer bestand aus einer Feuersteinschneide, die er geschlagen und an einem wunderschönen Griff aus gelblichem alten Elfenbein befestigt hatte. Den Griff hatte Solaban geschnitzt, und Marsheval hatte Pferde eingeritzt. Ayla schnitt die Birkenrinde in gleichgroße Stücke und kerbte sie ein, um sie leichter zu zwei kleinen Behältern mit Deckel falten zu können. Die Beeren waren so winzig, dass es lange dauerte, genug für drei Portionen zu pflücken, aber der köstliche Geschmack der wilden Erdbeeren war es wert. Aus dem Beutel, in dem sie ihren Trinkbecher und die Essschale aufbewahrte, zog sie ein Stück von der Schnur, die sie immer bei sich hatte, band die Behälter aus Birkenrinde zu und legte sie in ihren Sammelkorb.
Jonayla war eingeschlafen, und Ayla breitete eine Ecke der weichen Tragedecke aus Hirschleder über sie, die an dieser Seite allmählich etwas ausfranste. Wolf lag neben der Kleinen, die Augen halb geschlossen. Als Ayla zu ihm schaute, klopfte er mit der Rute auf den Boden, blieb aber nahe bei dem jüngsten Nachwuchs seines Rudels. Ayla stand auf, nahm ihren Sammelkorb und ging über die Wiese zum Rand des Waldes.
Als Erstes entdeckte sie in einer Hecke die quirlig angeordneten Blätter des Labkrauts, das in großer Menge zwischen den anderen Pflanzen in die Höhe wuchs, wobei ihm die borstigen Härchen an den Stielen halfen. Ayla zog mehrere lange Stängel heraus und bündelte sie, was leichtfiel, da sie aneinanderklebten. In diesem Zustand konnte man sie als Sieb verwenden. Allein deshalb waren sie schon nützlich, aber sie hatten auch noch viele andere, sowohl nahrhafte als auch heilende Eigenschaften. Die jungen Blätter ergaben einen angenehmen Gemüsekohl, aus den gerösteten Samen ließ sich ein wohlschmeckendes, dunkles Getränk herstellen. Eine Salbe aus dem zerstoßenen, mit Fett vermischten Kraut half Frauen, deren Brüste mit angestauter Milch geschwollen waren.
Ayla ließ sich von einer sonnigen, trockenen Stelle im Gras anlocken, von der ein angenehmer, aromatischer Duft aufstieg, und suchte nach der Pflanze, die gern an solchen Stellen wuchs. Rasch fand sie Ysop, eine der ersten Pflanzen, die Iza ihr gezeigt hatte. Ayla konnte sich noch gut an den Anlass erinnern. Eine holzige kleine Pflanze, mehr als dreißig Zentimeter hoch und mit schmalen, dunklen immergrünen Blättern, die eng um den Stängel herum angeordnet waren. Die leuchtend blauen Blüten, die an langen Grannen kreisförmig zwischen den oberen Blättern wuchsen, hatten sich gerade erst geöffnet und wurden von Bienen umsummt. Ayla überlegte, wo der Bienenstock sein mochte, da mit Ysop gewürzter Honig besonders schmackhaft war.
Sie pflückte
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