Zyklus der Erdenkinder 06 - Ayla und das Lied der Höhlen
den fremden Mann und die fremde Frau, die Pferde und diesen Wolf und infolgedessen auch ihn zu beherrschen wusste. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er Angst, und am meisten fürchtete er sich vor dem Wolf. Am liebsten hätte er das Tier getötet.
Inzwischen hatten sich alle Bewohner aus beiden Höhlen und alle benachbarten Zelandonia auf der Wiese vor den Felswänden versammelt, und als die Männer vor die Menge geführt wurden, entstand beträchtliche Unruhe. Einige Menschen erkannten Balderan, manche stießen laute Anschuldigungen aus.
»Das ist er!«, rief eine Frau. »Der hat mir Gewalt angetan! Sie alle.«
»Die haben mir Fleisch gestohlen, das ich zum Dörren ausgelegt hatte.«
»Er hat meine Tochter mitgenommen und fast einen Mond lang behalten. Ich weiß nicht, was sie ihr angetan haben, aber sie hat sich nie wieder davon erholt und ist im vergangenen Winter gestorben. Wenn ihr mich fragt, hat er sie umgebracht.«
Ein Mann in mittleren Jahren trat vor. »Ich kann euch etwas über ihn erzählen. Er wurde in meiner Höhle geboren, bevor ich wegging.«
»Ich würde gern hören, was dieser Mann zu sagen hat«, bat die Erste.
»Ich auch«, bekräftigte der Zelandoni der Dritten Höhle der Hüter.
»Balderan wurde von einer Frau geboren, die keinen Gefährten hatte, und zunächst freuten sich alle, dass sie einen Sohn hatte, der gesund und munter schien, einen Sohn, der eines Tages seinen Beitrag zur Höhle leisten könnte, doch schon in sehr jungen Jahren war er unbändig. Er war ein starker Junge, benutzte aber seine Kraft, um sich nach Belieben zu nehmen, was er wollte. Am Anfang entschuldigte seine Mutter ihn. Da sie keinen Gefährten hatte, hoffte sie, ihr starker Sohn, der rasch ein sehr guter Jäger wurde, weil er gern tötete, würde sich ihrer annehmen, wenn sie älter wurde. Aber am Ende wurde ihr klar, dass er sich um sie ebenso wenig scherte wie um alle anderen«, begann der Mann.
»Nachdem er zum Jüngling herangereift war, hatten alle Menschen der Höhle Angst vor ihm und waren wütend auf ihn. Die Sache spitzte sich zu, als er einem Mann ein paar Speere abnahm, die dieser für sich angefertigt hatte. Als der Mann widersprach und sie sich zurückzuholen versuchte, schlug Balderan ihn so heftig, dass der Mann beinahe starb. Ich glaube nicht, dass er sich je vollständig erholt hat. Da schlossen sich alle zusammen und sagten ihm, er müsse gehen. Alle Männer und die meisten Frauen bewaffneten sich und jagten ihn fort. Zwei Freunde gingen mit ihm, junge Männer, die ihn dafür bewunderten, dass er sich nahm, was er wollte, und für nichts arbeiten musste. Einer von ihnen kehrte zurück, bevor der Sommer zu Ende war, und flehte uns an, ihn wieder aufzunehmen, doch Balderan ist es immer gelungen, ein paar Kumpane um sich zu scharen.
Wenn er zu einem Sommertreffen ging, richtete er sich in einer Randhütte ein und forderte die anderen jungen Männer zu waghalsigen, gefährlichen Unternehmungen heraus, um ihre Männlichkeit unter Beweis zu stellen. Er drangsalierte alle, die schwach oder ängstlich wirkten, und wenn er das Sommertreffen verließ, hatte er stets ein paar neue Anhänger, die sich von seiner wüsten Art einnehmen ließen. Sie belästigten ein paar neue Höhlen, bis diese sich schließlich zusammentaten und nach den Männern suchten. Dann zogen sich Balderan und seine Freunde ein gutes Stück zurück und fanden andere Höhlen, denen sie Nahrungsmittel, Kleidung, Ausrüstung, Waffen und über kurz oder lang Frauen stehlen konnten, um ihnen Gewalt anzutun.«
Balderan grinste höhnisch, während der Mann die Geschichte erzählte. Was andere über ihn sagten, störte ihn nicht. Alles stimmte, aber er war bisher noch nie gefangen worden, und das gefiel ihm nicht. Ayla hatte ihn genau im Blick und sah, dass er nicht nur wütend war, sie sah ihm seine Angst und seinen Hass an und war sich sicher, dass Wolf es wittern konnte. Sie wusste, wenn Balderan auch nur den Versuch unternähme, ihr, Jonayla, Jondalar oder einem der Mitreisenden etwas anzutun, würde Wolf ihn in Stücke reißen. Wenn sie Wolf ein Zeichen gäbe, den Mann zu töten, würde er es tun, und die Menschen wären wahrscheinlich dankbar. Aber sie wollte weder, dass Wolf ihr Problem löste, noch dass er als Mörder galt. Dass er geholfen hatte, den Mann zu fangen, ihn bewachte und nicht tötete, war die Geschichte, die sie den Menschen von Wolf erzählen wollte. Sie mussten selbst mit Balderan fertigwerden, und Ayla war neugierig zu
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