Zyklus der Erdenkinder 06 - Ayla und das Lied der Höhlen
ausgefallenen Akzent, aber mittlerweile waren alle derart daran gewöhnt, dass er ihnen gar nicht mehr auffiel, sondern Ayla im Gegenteil eine reizvolle Aura des Geheimnisvollen und Fremdartigen verlieh. Sie war voll in ihre Gemeinschaft aufgenommen worden, dennoch erzählten die Menschen anderen gerne mit einem gewissen Stolz von ihr, weil Ayla so außergewöhnlich war, und dadurch bekamen sie das Gefühl, ebenfalls besonders zu sein.
Wenn alle in der warmen Sonne des Spätnachmittags beisammensaßen, waren Aylas Geschichten besonders beliebt. Ihr Leben war so spannend verlaufen, dass die Höhlenbewohner nie müde wurden, ihr Fragen nach dem Clan zu stellen oder sie zu bitten, ihnen zu zeigen, wie man im Clan bestimmte Wörter oder Gedanken vermittelte. Und sie hörten gerne die altvertrauten Lieder und Überlieferungen, mit denen sie aufgewachsen waren. Viele ältere Menschen kannten die eine oder andere Legende ebenfalls und verbesserten Ayla sofort, wenn sie einen Fehler machte, doch einige stammten aus anderen Höhlen und hatten daher eigene Versionen. Das führte zu mehr oder weniger hitzigen Debatten, welche Fassung die richtige war. Ayla störte das gar nicht, im Gegenteil. Sie fand die unterschiedlichen Interpretationen eher interessant, und die Gespräche halfen ihr, sich die Worte besser einzuprägen. Es war eine geruhsame Zeit. Wer dazu in der Lage war, ging hinaus, um Früchte, Gemüse, Nüsse und Samen zu sammeln, um die Mahlzeiten zu ergänzen oder für den Winter einzulagern.
Jeden Abend kurz vor Sonnenuntergang stieg Ayla mit den flachen Tafeln, auf denen sie ihre Kennzeichnungen festhielt, die Felswand hinauf. Sie hatte sich angewöhnt, Wolf nachts bei Marthona zu lassen, und der älteren Frau gezeigt, mit welchem Befehl sie den Wolf zu ihr schicken konnte, wenn sie Hilfe brauchte. Ayla verfolgte, wie die Sonne ihre Position jeden Abend fast unmerklich veränderte und ein kleines Stück weiter rechts am westlichen Horizont unterging.
Bevor Zelandoni ihr die Aufgabe gestellt hatte, waren ihr die Bewegungen der Himmelsgestirne nicht weiter wichtig gewesen. Ihr war nur aufgefallen, dass die Sonne irgendwo im Osten auf- und im Westen unterging und dass der Mond Phasen durchlief, dass er einmal voll und dann wieder schwarz war, ehe er erneut voll wurde. Wie die meisten Menschen hatte sie gesehen, dass der Mond bisweilen auch bei Tag am Himmel stand, dennoch fand die bleiche Scheibe für gewöhnlich nur wenig Beachtung. Allerdings gab es eine bestimmte Farbe, einen fast durchsichtigen Weißton, kaum trüber als Wasser, das mit etwas weißem Kaolin von einer Ablagerung in der Nähe versetzt war, die »Bleich« hieß, nach dem bleichen Mond, wie er am Tag zu sehen war.
Jetzt wusste Ayla viel mehr, doch sie würde nie aufhören zu lernen. Seit geraumer Zeit beobachtete sie, wo die Sonne am Horizont auf- und unterging, achtete auf die Stellung bestimmter Sternbilder und einzelner Sterne und auf die unterschiedlichen Zeiten des Mondauf- und -Untergangs. Es war Vollmond, und obwohl am Winter-Kurztag oder am Sommer-Langtag nicht selten ein Vollmond am Himmel stand, kam es auch nicht allzu häufig vor. Vielleicht einmal alle zehn Jahre fiel einer dieser Tage mit einem Vollmond zusammen, doch da der Vollmond immer der Sonne gegenüberstand, ging er unweigerlich zur selben Zeit auf, wenn die Sonne unterging, und da die Sonne im Sommer hoch am Himmel stand, blieb der Vollmond die ganze Nacht tief am Himmel. Ayla saß am Boden mit dem Gesicht nach Süden und drehte den Kopf ständig nach links und rechts, um beide Gestirne zu verfolgen.
Am ersten Abend, als die Sonne an derselben Stelle unterzugehen schien wie am Abend zuvor, war Ayla nicht sicher, ob sie sich nicht getäuscht hatte. Stand die Sonne weit genug rechts am Horizont? War die richtige Anzahl von Tagen verstrichen? Stimmte auch die Zeit? Sie prägte sich bestimmte Sternbilder und den Mond ein und beschloss, bis zum nächsten Abend zu warten. Als auch dann die Sonne an derselben Stelle unterging, war sie so aufgeregt, dass sie sich wünschte, Zelandoni wäre bei ihr, um sich mit ihr gemeinsam über diese Erkenntnis zu freuen.
S ie konnte es kaum erwarten, bis Marthona am nächsten Morgen aufwachte, um ihr zu sagen, dass die Zeit des Sommer-Langtags gekommen war. Die ältere Frau vernahm die Nachricht mit gemischten Gefühlen. Um Aylas willen freute sie sich, aber sie wusste auch, dass die junge Frau nun bald zum Sommertreffen aufbrechen und sie allein
Weitere Kostenlose Bücher