Zyklus der Erdenkinder 06 - Ayla und das Lied der Höhlen
schwach ausgeprägt und konnten auch zum Genuss getrunken werden, wie etwa Minze und Kamille, die zwar auch einen verdorbenen Magen beruhigten und die Verdauung anregten, trotzdem aber gut schmeckten. Ayla entschied sich für eine Minze-Mischung, die ihr helfen würde zu entspannen. Sie tastete nach dem Päckchen und roch daran. Eindeutig Minze. Sie schüttete ein wenig in die hohle Hand, gab sie in das dampfende Wasser und ließ den Tee eine Weile ziehen, ehe sie sich einen Becher einschenkte. Den leerte sie in einem Zug, denn sie hatte Durst, dann füllte sie den Becher wieder, um den Tee gemächlich zu schlürfen. Er schmeckte etwas muffig, sie würde sich frische Minze besorgen müssen, aber allzu schlimm war es nicht, außerdem hatte sie immer noch Durst.
Als sie auch den zweiten Becher geleert hatte, sammelte sie sich und atmete tief durch, wie sie es gelernt hatte. Langsam, tief, sagte sie sich. Denke an Klar, denk an die Farbe, die Klar heißt, an einen klaren Bach, der über runde Steine fließt, denk an den klaren, wolkenlosen Himmel, an dem nur das Licht der Sonne zu sehen ist, denk an Leere.
Unwillkürlich blickte sie zum Mond, der beim letzten Mal, als sie ihn angesehen hatte, nicht einmal eine Viertelsichel gewesen war, jetzt aber groß und rund am Nachthimmel stand. Und er schien noch zu wachsen, ihr ganzes Blickfeld zu füllen, sie hatte das Gefühl, unaufhörlich in ihn hineingezogen zu werden. Sie riss sich von dem Anblick los und stand auf.
Langsam ging sie auf den Fallenden Felsen zu. »Der Stein glüht! Nein, das bilde ich mir bloß wieder ein. Das liegt nur am Mondlicht. Er besteht aus einer anderen Art Gestein und leuchtet bei Vollmond anders als die anderen Steine.«
Sie schloss die Augen, für lange Zeit, wie ihr schien. Sie schlug sie wieder auf, doch der Mond lockte sie erneut zu sich, der große Vollmond zog sie an. Sie sah sich um. Sie flog! Flog ohne Wind, ohne Geräusch. Sie blickte nach unten. Die Felswand und der Fluss waren verschwunden, das Land war ihr fremd. Einen Moment lang glaubte sie abzustürzen. Ihr war schwindelig, alles drehte sich. Leuchtende Farben bildeten einen schimmernden Lichtstrudel, der immer rasender um sie herumwirbelte.
Unvermittelt stockte alles, und Ayla saß wieder oben auf der Felswand. Sie konzentrierte sich auf den Mond, der riesengroß am Himmel stand und immer größer wurde. Sie wurde in ihn hineingezogen, und dann flog sie wieder, flog wie damals, als sie Mamuts Gehilfin gewesen war. Sie blickte nach unten und sah den Felsen. Er war lebendig, glühte mit Spiralen pulsierenden Lichts. Wie gebannt von der Bewegung, fühlte sie sich zu ihm hingezogen. Vor ihren Augen stiegen Energielinien aus dem Boden auf, wanden sich um die schräg aufragende Felssäule und lösten sich an ihrer Spitze in einer Lichtkorona auf. Ayla schwebte direkt über dem glühenden Felsen, schaute von oben auf ihn herab.
Er war heller als der Mond und erleuchtete die ganze Umgebung. Windstille herrschte, nicht die leiseste Brise wehte, kein Blatt regte sich an den Bäumen, doch am Boden und in der Luft wimmelte es vor Bewegung, alles war angefüllt mit flüchtigen Umrissen und Schatten, die hin und her huschten, substanzlosen Formen, die planlos umherschossen und schwach schimmerten, ähnlich wie der Felsen. Dann nahm ihre Bewegung eine Richtung an, fand ein Ziel. Die Konturen kamen auf Ayla zu, kamen ihr nach! Sie spürte ein Prickeln, ihre Haare richteten sich auf. Plötzlich stieg sie über den steilen Pfad hinab, stolperte, taumelte vor Angst. Als sie den Abri erreichte, lief sie auf den vom Mond beschienenen Felsvorplatz.
Wolf, der wie befohlen neben Marthonas Schlafplatz lag, hob den Kopf und winselte leise.
Ayla rannte über den Vorplatz nach Flussabwärts, dann weiter zum Hauptfluss, wo sie dem Uferpfad folgte. Sie barst vor Energie, lief jetzt aus reiner Freude, wurde nicht mehr gejagt, sondern von einer unbegreiflichen Kraft angezogen. Bei der Großen Furt watete sie platschend durch den Fluss und lief weiter, schier endlos, so kam es ihr vor. Dann näherte sie sich einer hohen Felswand, die ihr vertraut und doch völlig fremd war.
Sie gelangte an einen ansteigenden Pfad und hastete bergauf, ihr Atem ging keuchend, zerfetzte ihr mit jedem Atemzug fast die Kehle, doch sie konnte nicht innehalten. Am Ende des Pfads tat sich die dunkle Öffnung einer Höhle auf. Sie lief hinein, wurde umfangen von einer dichten, beinahe greifbaren Schwärze, stolperte auf dem unebenen
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