Zyklus der Erdenkinder 06 - Ayla und das Lied der Höhlen
antwortete Ayla. »Dabei habe ich
nach ihr gesucht. Als ich herkam, hatte ich noch einen Rest
in meinem Beutel, aber der ist aufgebraucht, und ich würde
ihn gerne wieder auffüllen. Die Pflanze ist sehr nützlich.« »Wie setzt du sie ein?«, erkundigte sich die Donier der
Südland-Höhle.
»Es ist ein Schlafmittel. Auf eine Art zubereitet, kann es
zur Betäubung verwendet werden, auf eine andere hilft es
Menschen, sich zu entspannen, aber es kann auch sehr gefährlich sein. Die Mog-urs des Clans haben es für heilige
Zeremonien verwendet«, antwortete Ayla. Gerade wegen
solcher Gespräche gehörte sie so gern der Zelandonia an. »Haben die verschiedenen Pflanzenteile jeweils eine andere Wirkung und werden daher unterschiedlich verwendet?«, fragte der Zelandoni der Dritten.
»Diese Fragen sollten wir vorerst beiseitelassen«, unterbrach die Erste. »Wir haben uns aus einem anderen Grund
hier versammelt.«
Alle setzten sich wieder ruhig hin, und diejenigen, die so
eifrig Fragen gestellt hatten, wirkten ein wenig verlegen.
Die Erste schöpfte die dampfende Flüssigkeit in einen Becher, den sie zum Abkühlen beiseitestellte. Der Rest wurde
herumgereicht, allerdings bekam jeder nur eine kleinere
Menge. Als der erste Becher hinlänglich abgekühlt war, gab
die Donier ihn Ayla.
»Wir könnten die Prüfung auch ohne dieses Getränk
durchführen und lediglich meditieren, aber das dauert länger. Der Tee hilft uns zu entspannen und versetzt uns in
den richtigen Geisteszustand«, erklärte Zelandoni. Ayla leerte den Becher des lauwarmen, eher übelschmeckenden Tees und nahm dann, wie die anderen, eine Haltung ein, die der Meditation am dienlichsten war. Sie wartete. Anfangs interessierte sie sich am meisten dafür, welche
Auswirkungen der Tee bei ihr hatte, sie überlegte sich, welches Gefühl sie im Bauch hatte, wie ihr Atem beeinflusst wurde, ob sie die Entspannung in Armen und Beinen feststellen konnte. Aber die Wirkung war mild. Ayla merkte gar nicht, wann ihre Gedanken abschweiften und ihr etwas völlig anderes durch den Kopf ging. Sie war überrascht - wenn sie Überraschung hätte empfinden können -, als ihr be
wusst wurde, dass die Erste leise und ruhig zu ihr sprach. »Wirst du schläfrig, Ayla? Das ist gut. Entspann dich, lass
zu, dass du müde wirst. Sehr müde. Leere deinen Kopf,
werde ganz ruhig. Denke an nichts als an meine Stimme.
Höre nur meine Stimme. Dir ist ganz behaglich, du entspannst dich, hörst nur meine Stimme«, sagte Zelandoni in
monotonem Singsang. »Und jetzt, Ayla, sage mir, wo du
warst, als du beschlossen hast, in die Grotte zu gehen.« »Ich war oben auf der Felswand«, setzte Ayla an und
brach wieder ab.
»Weiter, Ayla. Du warst oben auf der Felswand. Was hast
du gemacht? Lass dir Zeit. Erzähle deine Geschichte auf
deine Art. Es besteht keine Eile.«
»Der Langtag war bereits gekennzeichnet, die Sonne hatte
kehrtgemacht und war auf dem Rückweg, ging auf den
Winter zu, aber ich wollte noch ein paar Tage mit der Kennzeichnung fortfahren. Es war sehr spät, ich war müde. Ich
beschloss, das Feuer zu schüren und mir Tee zu machen.
Ich suchte in meinem Medizinbeutel nach der Minze. Es
war dunkel, und ich befühlte die Knoten, um den richtigen
Beutel zu finden. Schließlich fand ich ihn anhand des starken Minzegeruchs. Während der Tee zog, sagte ich das Lied
von der Mutter auf.« Ayla begann, das Lied zu rezitieren.
Aus dem Chaos der Zeit, im Dunkel verloren Ward aus wirbelndem Strahl die Mutter geboren, Wird gewahr ihres Seins, sieht des Lebens Wert, Doch die Erdmutter trauert, denn eins ist ihr verwehrt.
Sie ist allein. Will es nicht sein.
»Das ist für mich die schönste aller Überlieferungen und Legenden, deswegen habe ich sie aufgesagt, während ich den Tee trank«, sagte Ayla und fuhr mit den nächsten Strophen fort.
Aus dem Staub erschafft sie. Und es erscheint Der schimmernde Bruder, Gefährte, Freund. In Liebe und Freundschaft vergeht fahr um Jahr. Dann ist sie bereit. Sie werden ein Paar.
Er liebkost ihr Gesicht mit seinem schimmernden Licht.
Der Freund und Gefährte beschert ihr Glück, Doch die Mutter ist rastlos, befragt ihr Geschick. Sie liebt den Schönen, sie ist ihm gut,
Doch es fehlt die Frucht der Liebesglut.
Der Mutter Begehren ist sich vermehren.
Sie trotzt dem Dunkel, dem grausigen Nichts Auf der eisigen Suche nach den Quellen des Lichts. Sie kämpft sich durch tosende Stürme und spürt, Wie das Chaos nach dem Puls ihres Lebens giert.
Die Mutter ist herrlich.
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