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schienen sie allmählich spärlicher zu werden. Das war wahrscheinlich, überlegte Margaret, eine Folge der Langsamkeit, mit der, wie es heißt, die Zeit für diejenigen verrinnt, die den Schlaf suchen. Vielleicht hätte auch Wendley Roper eine Erklärung gewußt, anhand graphischer Tabellen oder des speziellen Familienwissens. Die Langzeitwirkung bestand darin, daß der Zugverkehr Margaret wie etwas nur in ihrem Kopf Existierendes vorkam, wie die großen, festumrissenen Schemen, die die Sicht des Migränekranken verstellen. »So werde ich nie einschlafen«, sagte Margaret zu sich selbst mit solcher Deutlichkeit, daß es schien, als hätte jemand anders die Worte gesprochen.
    Sie zwang sich dazu, sich aus den steifen Decken zu befreien, öffnete den Kragen ihrer Pyjama-Jacke, obgleich ihr keineswegs warm war, und löschte das Licht, das beim leisesten Atemhauch erstarb. Was in aller Welt trieb Mimi bloß? überlegte sie, verwirrt wie ein Schulmädchen.
    Sogleich nachdem sie sich in ihr stockfinsteres Bett zurückgetastet hatte, rollte ein Zug vorbei, der vollkommen anders konstruiert sein mußte. Es gab kein Pfeifen der Dampfmaschine, kein Donnern und Stampfen der Räder – nur ein anhaltendes, ziemlich hohes, rasselndes, metallisches, unmenschliches Heulen. Der neue Zug schien den Abhang herunterzukommen, doch zum ersten Mal war sich Margaret nicht sicher. Das Geräusch jagte ihr heftige Angst ein. »Es ist ein Lazarettzug«, hatte ihre Mutter vor langer Zeit von etwas gesagt, von dem sie alle Einzelheiten vergessen hatte, außer daß es das Schrecklichste gewesen war, wovon Margaret je gehört hatte. »Er ist voll mit verwundeten Soldaten.«
    In einem Anfall entsetzlicher Furcht, als die Leiden der Kindheit in ihr Erwachsenenleben eindrangen, mußte Margaret eingeschlafen, oder doch in Ohnmacht gefallen sein. Denn was sich danach ereignete, konnte nur ein Traum oder eine Halluzination gewesen sein.
    Das Zimmer schien sich mit farblosem Licht zu füllen. Zwar war dieses Licht jetzt außerordentlich schwach, der Prozeß seines ersten Aufblendens und Zunehmens schien aber schon lange im Gange zu sein. Während sie das erkannte, wurde einem anderen Teil von Margarets Verstand bewußt, daß alles nichtsdestoweniger eine Angelegenheit von nur wenigen Minuten sein konnte. Sie kämpfte darum, die Empfindung des beinahe Endlosen mit dem äußerster Knappheit in Einklang zu bringen. Das Licht schien außerdem die genaue und sichtbare Entsprechung des Geräusches zu sein, das der neue Zug verursacht hatte.
    Dann sah Margaret etwas sehr Schreckliches: Es begann mit dem umgedrehten, toten Gesicht einer alten Frau, von der Farblosigkeit des Leuchtens; es endete mit der geschrumpften Gestalt der Frau, die auf rätselhafte Weise über der Falltür von Margarets, einem Zugabteil ähnelnden Zimmer baumelnd sichtbar wurde. Unter dem Dach hatte sich Miss Roper erhängt. Ihr graues Haar war so wirr und zerzaust, als habe es selbst die Strangulation herbeigeführt.
    Margarets Hände griffen entsetzt nach ihrer eigenen entblößten Kehle. Dann öffnete sich die Zimmertür, und jemand mit einem Licht erschien in ihrem Rahmen.
    »Sie haben mich wohl nicht klopfen gehört.«
    So wie sie aus Ropers Worten das Echo des Mannes aus dem Gasthaus herausgehört hatte, als Mimi und sie angekommen waren, so vernahm sie jetzt ein anderes Echo – das Echo von Beechs kühler Entschuldigung für das Schlafzimmermalheur, das Mimis Zorn so sehr entfacht hatte. Für Margaret war es, als hätte ein Alptraum das Stadium erreicht, da der Gequälte, obschon noch nicht erwacht und dem Traum noch nicht entronnen, sich doch des Traumes wohlbewußt ist. Doch verwandelte sich alles wieder in den finstersten Alptraum, als Margaret sich der Schattenfrau auf der Treppe erinnerte und erkannte, daß dieselbe Frau jetzt bei ihr im Zimmer war.
    Margaret brach zusammen. Sie hielt immer noch ihre Kehle umklammert und rief immer wieder mit schriller, aber nicht lauter Stimme: »Geh weg! Geh weg! Geh weg!«
    Wieder war es wie in ihrer Kindheit. Die fremde Frau näherte sich, setzte die Lampe ab, faßte sie bei den Schultern und begann sie zu schütteln. Margaret wußte wohl, daß sie, wer immer sie auch sein mochte, nicht die tote Miss Roper sein konnte, und das war alles, worauf es anzukommen schien. Sie hörte auf zu wimmern wie ein vor Angst gelähmtes Kind und sah dann, daß die Hand, die noch auf ihrer Schulter lag, einen matten, kohlschwarzen Ring trug, und erkannte,

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