beträchtlicher Neugier. Soweit sie das beurteilen konnte, waren die Bände sogar sorgfältig ausgewählt und keineswegs bloße Hinterlassenschaften oder die Art von Bettlektüre, die man gemeinhin erwarten konnte, wenn man so etwas in einem Hotel überhaupt erwarten konnte. Aber kaum hatte Margaret bemerkt, daß es sich nicht um Bücher der Sorte handelte, die die meisten Leute vor dem Einschlafen lasen, da entdeckte sie, daß das erste Werk auf dem Regal ein voluminöser Wälzer mit dem deutschen Titel ›Die Schlaflosigkeit‹ war, dessen Bedeutung sie erriet. Sie stellte das Buch rasch zurück. Margaret legte großen Wert darauf, wie ein Murmeltier zu schlafen, und sie glaubte, daß Schlaflosigkeit im wesentlichen auf Einbildung beruhte. Sie wollte nichts davon wissen. Das nächste Buch war Daudets ›Sapho‹. Wenn sie gekommen wäre, um ihr Französisch aufzubessern, anstatt sich auszuruhen, hätte es vielleicht eine willkommene Herausforderung sein können.
Nachdem sie sich von Henry verabschiedet, und bevor sie Sovastad verlassen hatte, hatte Margaret der Sprachbarriere die Stirn geboten, um sich eine unauffällige grüne Hose zu kaufen, dunkel wie die Koniferen, ein mokkafarbenes Männerhemd, einen Anorak in hellerem Grün sowie derbe Schuhe. Diese Kleidung zog sie jetzt an. Vermutlich war sie zu alt dafür, zumindest nach britischen Maßstäben, aber sie wollte, daß an diesen beiden Tagen die Wälder, Felsen und Berge die Maßstäbe setzten und nicht die Nachbarn zu Hause. Sie fühlte sich beinahe wieder wie ein Mädchen, ließ sich auf das riesige Doppelbett fallen und schrieb mit ausgestreckten Beinen jedem ihrer drei Kinder eine heitere Postkarte an die Adresse des jeweiligen Internats. Dann stellte sie zu ihrer Überraschung fest, daß sie, obwohl die Sonne hoch über den Bergen stand, von Müdigkeit übermannt wurde.
Als sie erwachte, hatte sie das Mittagessen versäumt. Es war wirklich merkwürdig. Sie hatte die Nacht zuvor wie immer lange und gut geschlafen, obwohl Henry sich im Nachbarbett wahrscheinlich wie üblich hin und her gewälzt hatte. Sie konnte sich nicht daran erinnern, wann sie zuletzt am hellichten Tag eingeschlafen war; wohl kaum, dachte sie, seit sie als Kind Mittagsruhe halten mußte. So weit sie sich erinnerte, hatte sie nicht geträumt. Es war, als seien ihr zwei oder mehr Stunden ihres Lebens gestohlen, einfach gestrichen worden. ›Das ist die Entspannung‹, dachte sie, weil sie nicht den Mut hatte zu denken ›Das ist die Erleichterung‹ ... ›Es ist das schöne große Bett.‹ (Henry hatte immer auf getrennten Betten bestanden, weil er so schlecht schlief, und es lag lange zurück, daß sie in oder auf etwas anderem geschlafen hatte.) ›Es sind die neuen Kleider‹ ... ›Es ist die Sonne oder die Höhenluft.‹
Sie war nicht eigentlich hungrig, hatte aber das Gefühl, daß sie es später bereuen würde, wenn sie zur gewohnten Stunde nicht wenigstens etwas äße. Sie mußte außerdem Briefmarken besorgen. Sie zog also den Reißverschluß ihres Anoraks hoch, schlug ihren Hemdkragen darüber, trug Lippenstift auf und ging mit einem durch und durch eigenartigen, aber keineswegs unangenehmen Gefühl nach unten. Die Architektur des Hotels war wirklich ausgesprochen schön in ihrem zeitgebundenen Stil: eine breite Treppe mit Messingnymphen, die das Geländer trugen, Waldnymphen, deren eine Hälfte sich in Bäume verwandelt hatte; eine quadratische Halle mit großen, schmalen gotischen Fenstern und wieder Nymphen, diesmal im Buntglas.
Aufgrund ihrer Erfahrungen mit anderen Hotels auf dem Kontinent hatte Margaret erwartet, daß jemand fürsorglich oder aufdringlich (je nach Standpunkt) auf ihr Mittagessen zu sprechen käme, für das sie (oder Henry), entsprechend Henrys üblicher Vereinbarung, in jedem Fall würde zahlen müssen. Aber nichts dergleichen geschah. Es war überhaupt niemand in der Nähe, nicht einmal hinter dem Rezeptionsschalter. Und es ließ sich kein Laut vernehmen, nicht einmal von den Vögeln draußen.
Die große Eingangstür stand weit offen, und die Halle glich einem Tempel, in den durch jede Öffnung Sonnenlicht strömte und die Buntglasnymphen auf dem weißgekachelten Fußboden abzeichnete. Margaret kam der Gedanke, daß sie ihr Mittagessen, selbst wenn sie bei Tisch erschienen wäre, wohl kaum bekommen haben würde. Daraufhin fühlte sie sich ziemlich hungrig.
Sie stellte sich vor, daß Leute auf der Terrasse sitzen würden, wie sie es gesehen hatte,
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