0016 - Das Mädchen von Atlantis
Kiriakis trat zur Seite und holte eine alte Öllampe. Er schraubte den Docht höher und deutete auf eine Steintreppe, die in die Tiefe eines Kellers führte.
»Wir gehen dort hinunter«, sagte er. »Folgt mir und sprecht kein einziges Wort. Es würde die Magie des Augenblicks stören.«
Durch meinen Kopf schossen zahlreiche Gedanken. Es war unerklärlich, was ich hier in diesem alten Haus erlebte. Durch Zufall waren wir einem Geheimnis auf die Spur gekommen, das uns mit einer Welt konfrontierte, die ich nur aus Sagen kannte. Suko erging es sicherlich nicht viel anders. Wir stiegen hinab. Die Stufen mußten uralt sein. An den Ecken war der Stein bereits abgebröckelt. Stickige Luft empfing uns. Ihr Sauerstoffgehalt war gering. Die Kerzenflamme begann zu flackern, brannte jedoch weiter.
Der Keller war nur halb so groß wie die Wohnung. Und mit einer noch tiefer gezogenen Decke. Suko und ich konnten nicht aufrecht stehen. Auch Kiriakis mußte sich bücken. Die rußende Flamme erhellte den Keller nur spärlich. Doch was uns auffiel, war das Pentagramm. Mit roter Farbe war es auf den Boden gezeichnet. Genau in der Mitte zeigte es einen strahlenden Stern, und an den Schnittpunkten des Pentagramms las ich magische Worte aus der Kabbala.
»Das ist die uralte Sprache!« wisperte mir der Alte ins Ohr. »Schon in Atlantis war sie bekannt. Die Magier und Zauberer bedienten sich ihrer.«
Ich sah mich um, betrachtete aufmerksam alle Gegenstände. Die Wände waren nackt und leer. Wenn das Licht in einem richtigen Winkel darauf fiel, glänzten sie feucht. An der Stirnseite des Kellers standen kleine flache Tonschalen. Sie waren mit Kräutern gefüllt, die einen betörenden Duft verbreiteten. Und doch war es mir, als lauere irgendwo eine Gefahr. Eine nicht sichtbare oder erklärbare – dennoch, ich war auf der Hut. Flüsternd erzählte ich Suko von meiner Ahnung. »Wir werden aufpassen«, antwortete mein chinesischer Partner.
Kiriakis hatte mitbekommen, worüber wir uns unterhielten. »Ja«, sagte er. »Die Kräfte der Finsternis haben sich konzentriert. Wir müssen uns beeilen. Helft mit. Die Zeit drängt. Ich wußte nicht, daß es schon soweit ist. Die im Schattenreich gefangenen Geister beginnen sich zu lösen. Kurz bevor Atlantis versank, haben wir sie durch Beschwörungen unschädlich machen können. Doch jetzt formieren sie sich zum Angriff. Ich spüre es. Auf der Insel läuft bereits das Ritual ab. Schnell, die Kräuter.« Mit zitternder Hand deutete der Alte auf die Schalen. Kiriakis stand inmitten des Pentagramms. Suko und ich machten uns an die Arbeit. Reichten ihm Schale auf Schale. Plötzlich hörte ich über mir ein Geräusch. Ich hob den Blick. Der schwebende Stein glitt zurück in die Fassung.
»Da!« rief ich. »Der Stein – er…«
Die nächsten Ereignisse rissen mir die Worte förmlich von den Lippen. Auf einmal strahlten die Wände in einem intensiven Blau. Es war so grell, daß es mich und Suko blendete. Schützend rissen wir unsere Arme vor die Augen.
Trotz dieses Lichtes sah ich die schrecklichen Gestalten. Sie quollen aus dem grellen Schleier, waren bewaffnet und stürzten auf uns zu…
***
Inmitten der Höhle standen vier Statuen! Makellose, bläulich schimmernde Modelle, von denen das intensive Licht ausging. Sie standen in einem Halbkreis zueinander, und Jane, die schon viel erlebt hatte, war sprachlos. Die Statuen glichen haargenau den Untoten! Rechts von Jane, also ganz außen, stand Karin von Rodeneck. Ihr Körper war gestreckt. Sie hatte die Arme erhoben und die Finger gespreizt. Auf ihrem glatten Gesicht lag ein hintergründiges Lächeln.
Janes Blick wanderte hin zur zweiten Figur. Sie sah das getreue Ebenbild der Sandra Moran. Selbst die zahlreichen Locken waren nachgebildet worden. Die Figur hielt die rechte Hand ausgestreckt, als würde sie auf irgend etwas deuten. Auch auf ihrem Gesicht lag dieses wissende und geheimnisvolle Lächeln. Die nächste Statue zeigte Franca Corelli. Sie war kleiner als die anderen. Mit jugendlichen Brüsten, schlanken Schenkeln und dem hübschen Puppengesicht.
Die vierte Frau kannte Jane vom Ansehen her nicht. Aber das mußte Colette sein. Doch sie lächelte nicht. Im Gegenteil. Ihre Gesichtszüge waren vor Schmerzen entstellt und der Körper gekrümmt. Von den Fingerspitzen hatten sich kleine Steine gelöst und waren zu Boden gefallen. Colette sah aus, als würde sie jeden Moment stürzen. Sie strahlte auch als einzige nicht in diesem so intensiven Blau.
Weitere Kostenlose Bücher