0022 - Der Todesfluß
Amulett besorgen.
Er stieß auf einen schmalen Weg, der zwischen Feldern und eingezäunten Weiden entlangführte. Bei jedem Schritt sank er tief in den morastigen Boden ein. Dies erforderte zusätzliche Kraft.
Der Weg beschrieb einen kaum merklichen Bogen nach links. Zamorra trat in eine tiefe Pfütze und geriet ins Stolpern. Er schaffte es gerade noch, das Gleichgewicht zu behalten. Keuchend hastete er weiter.
Urplötzlich riß die Wolkendecke auf. Fahles Mondlicht fiel herab und erhellte einen Wald, der als düstere Wand vor dem Professor aufragte.
Unwillkürlich verlangsamte Zamorra seine Schritte. Er sah noch, daß der Wald von einem Graben umgeben war. Dann schloß sich der Riß in der Wolkendecke wieder. Undurchdringliche Dunkelheit senkte sich erneut über das Land. Dennoch setzte Zamorra seinen Weg zielstrebig fort. Er erreichte die Südseite des Waldes, und seine Augen hatten sich wieder einigermaßen an die Finsternis gewöhnt.
Jäh zuckte ein Blitz vom Himmel herab, fuhr krachend in einen Zaunpfahl, der höchstens zehn Meter von Zamorra entfernt war.
Die Gewalt des Blitzschlags schleuderte ihn zu Boden. Der Länge nach schlug er in den Morast des Weges. Während er sich aufrappelte, setzte grollender Donner ein. Die Wolkendecke spaltete sich nun häufiger. Neue Blitze zuckten mit gleißender Helligkeit auf die Erde und ließen nach jedem ohrenbetäubenden Einschlag schwefeligen Gestank zurück.
Die entfesselten Naturgewalten steigerten sich zu einem wahren Inferno. Blitze umgaben den Professor wie ein mörderischer Vorhang aus geballter Elektrizität. Das Toben des Donners erstickte jeden anderen Laut.
Zamorra nahm das Amulett in die Rechte, hielt es wie einen Schutzschild. Nur die Kraft des geheimnisvollen Talismans bewahrte ihn vor den höllischen Gewalten, mit denen die Mächte der Finsternis ihn einzuschüchtern und zu vernichten suchten.
Das gleißende Licht der Blitze half ihm, sich zu orientieren. Er stellte fest, daß es nur eine einzige Möglichkeit gab, den Graben zu überqueren, der sich zwischen Weg und Waldrand entlangzog.
Ohne zu zögern betrat Zamorra den Baumstamm, der moosbewachsen und glitschig quer über dem Graben lag. Behutsam setzte er einen Fuß vor den anderen. Das Profil seiner Stiefelsohlen half ihm, nicht abzurutschen.
Während er auf diese Weise über das dunkle Wasser des Grabens balancierte, tobte das Unwetter zunehmend heftiger. Der Höllenlärm ließ Zamorras Trommelfelle schmerzen. Es schien, als läge in dem Brüllen von Blitz und Donner die ganze Wut der Dämonen, die ihren Todfeind nicht zurückhalten konnten.
Für den Professor war es die Bestätigung, daß er sich auf dem richtigen Weg befand. Unbeschadet erreichte er den Waldrand und hatte sicheren Boden unter den Füßen. Das Gewitter ließ nach. Strömender Regen setzte ein. Dicke Tropfen klatschten herunter, durchbrachen selbst die dichtbelaubten Baumkronen.
Wieder von Finsternis umgeben, drang Zamorra langsam in den Wald vor. Er konnte kaum die Hand vor Augen sehen.
Aber er folgte den Impulsen, die von dem Amulett ausgingen und seine Sinne erreichten. Diese Impulse äußerten sich als kaum merkliches Zucken, wie Stromstöße von geringer Spannung. Doch mit jedem Schritt nahmen sie an Intensität zu. Zamorra konzentrierte sich mit seiner ganzen inneren Kraft auf das Ziel, das er erreichen wollte.
Und er wußte, daß es ihm gelingen würde. Alle Gedanken an Nicole verdrängte er. Wenn er ihr helfen konnte, dann nur, indem er einen klaren Kopf bewahrte, seine geistige Überlegenheit und die Macht des Amuletts sinnvoll anwendete.
Plötzlich endete der weiche Waldboden. Zamorras Stiefelspitzen stießen gegen herumliegende Gesteinsbrocken.
Dann ertastete er Mauerreste – brüchige, zerborstene Quadersteine, die größtenteils von Efeu überwuchert waren.
***
Nicole erwachte.
Ihre erste Wahrnehmung war der infernalische Lärm, den sie nicht sofort identifizieren konnte. Erst nach Minuten begriff sie, daß es sich um das Krachen einschlagender Blitze und um Donnergrollen handelte.
Nur allmählich kehrten Nicoles Kräfte zurück. Und ebenso langsam setzte auch ihre Erinnerung wieder ein. Doch im nächsten Moment, als sie krampfhaft blinzelnd die Augen öffnete, waren ihre Gedanken wie ausgelöscht.
Panische Angst erfüllte sie. Denn totale Finsternis umgab sie. Sie lag auf dem Rücken. Ihre Hände ertasteten feuchte, kalte Steine. Ein Rascheln war plötzlich dicht neben ihrem Kopf.
Etwas
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