0030 - Am Morgen meiner Hinrichtung
Urteilsverkündung nahte.
Meine Füße steckten in einem Paar billigster Strohsandalen. Die Haare waren mir abgeschnitten worden. Als Kostüm trug ich eine Hose und eine lose Jacke aus grober Sackleinwand. In der Zelle konnte ich mich frei bewegen. Aber was war das schon!
Ich war sicher, daß es am nächsten Morgen soweit sein würde. Und richtig, spät am Abend erschien ein Pfarrer. »Morgen früh?« fragte ich ihn.
Er musterte mich und nickte dann langsam.
»Haben die Zeitungen darüber geschrieben?« forschte ich weiter.
»Ja. Es stand in allen Blättern. Sogar die genaue Uhrzeit der Hinrichtung.«
Ich hockte mich auf die Pritsche und strich mir über den kahlgeschorenen Kopf. Es war neun Uhr abends. Sicher würden sie es vor acht Uhr morgens machen. Ich hatte also nicht viel mehr als neun Stunden, wenn es überhaupt noch so viele waren.
Ich wollte es genau wissen und fragte: »Wieviel Uhr?«
»Um sechs.«
Ich nickte. So ungefähr hatte ich mir das ja auch gedacht. Na, also denken konnte ich noch. In den entscheidenden Punkten habe ich mich bisher noch nie geirrt.
»Haben Sie eine Zigarette?«
Der Pfarrer sah mich überrascht an. »Wollen Sie rauchen? Sie hätten es nur dem Wärter zu sagen brauchen. Er hätte Ihnen Zigaretten gebracht.«
Der Pfarrer wandte sich an den Wärter. Der nickte und brachte sofort zwei Packungen Zigaretten mit einem Döschen Streichhölzer. Allerdings behielt er die Streichhölzer selbst, und der Pfarrer erklärte mir: »Er wird Ihnen jedesmal Feuer geben, wenn Sie es wünschen. Die Hölzer selbst darf er Ihnen nicht aushändigen. Es ist gegen die Vorschrift. Ja, ja, natürlich, rauchen Sie ruhig. Es stört mich nicht.«
Das hätte ich früher wissen müssen. Die Sucht nach dem süßen Rauch hatte ein paar Tage lang in mir getobt, und es war nicht immer leicht gewesen, sich auf etwas anderes zu konzentrieren.
Ich legte mich auf meine Pritsche und rauchte die erste Zigarette seit langer, langer Zeit. Der Rauch stieg in einer feinen Spirale nach oben an die hohe Decke. Ich streckte mich auf der Pritsche aus und fragte: »Pfarrer, wie war das eigentlich mit diesem Bankräuber Rodrigo? Ich habe da mal etwas in einer Zeitung gelesen, aber mein Spanisch reichte nicht aus, um es richtig zu verstehen.«
Der Pfarrer sprach ein bemerkenswert gutes Englisch. Er hatte sich auf den einzigen Hocker in meiner Zelle gesetzt und die Hände flach auf den Knien liegen. Jetzt sah er zu mir herüber und meinte: »Ja, das war eine eigenartige Geschichte…
Juan Rodrigo war ein kleiner Indianermischling, der sich auf einer Kaffeeplantage recht und schlecht nützlich machte. Er war eines Tages aus dem Urwald aufgetaucht, und kein Mensch hatte gewußt, woher er eigentlich gekommen war. Man fragte ihn auch vergeblich nach seinen Eltern. Er kannte weder Vater noch Mutter, jedenfalls sprach er nie von ihnen, sosehr sich manche Leute auf der Plantage auch Mühe gaben, das Rätsel seiner Herkunft zu entschleiern. Nun, man konnte den etwa fünf oder sechs Jahre alten Knaben doch nicht zurück in den Urwald schicken. Eine Indianerfamilie, die ebenfalls auf der Plantage arbeitete, nahm sich des kleinen Jungen an. Und von dieser Familie erhielt er auch seinen Namen: Juan Rodrigo. Juan war ein fleißiges Kind, aber er war häßlich wie die Nacht, Er hatte ein Paar wildgeschwungener Säbelbeine, eine plattgedrückte Nase und leicht schielende Augen. Die anderen Kinder verspotteten ihn — wie Kinder eben so sind. Juan zog sich immer mehr von den Gleichaltrigen zurück.
Er bekam hin und wieder für Handreichungen von den Angehörigen des Plantagenbesitzers eine kleine Münze geschenkt. Da in der Nähe der Plantage eine dieser neuen, hochmodernen Volksschulen errichtet wurde, hatte Juan das Glück, das nur wenige eingeborene Kinder in Venezuela genießen können, nämlich eine Schule besuchen zu dürfen, wo er Rechnen und Schreiben und Lesen lernte. Und hier zeigte sich der kleine Juan als ein außerordentlich gelehriges Kind. Er erfaßte schneller als alle anderen Kinder. Und er war viel zu wißbegierig, um sich an den dummen Streichen der Kinder zu beteiligen, die sie hin und wieder ausheckten, um ihren Lehrer zu ärgern.
Diese Art trug natürlich nicht gerade dazu bei, den nicht vorhandenen Kontakt zu den Gleichaltrigen endlich herzustellen. Im Gegenteil, er wurde öfter nicht nur verspottet, sondern auch verprügelt.
Dabei entwickelte Juan bald eine bemerkenswerte Taktik: Da er allein zu schwach
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