0034 - Das Teufelsauge
dem Bus bis ins Zentrum der Stadt zu fahren. Aber sie entschloß sich, die letzten Kilometer zu Fuß zu gehen.
Vom Norden der Stadt her führte ein prächtiger Waldweg bis vor die Tore der Stadt. Carmela kannte ihn gut. Mit den Eltern noch war sie ihn oft gegangen. Er war immer kühl, selbst an den heißesten Tagen.
Und unterwegs konnte man sich erfrischen, wenn es einen danach verlangte.
In Abständen von höchstens einem Kilometer traf man auf Quellen mit ganz klarem Wasser. Die Felsen hielten das Wasser tief in ihrem Inneren kühl und brachten dem erhitzten Touristen eine sprudelnde und willkommene Erfrischung.
Schwester Carmela war knapp eine halbe Stunde gegangen, als sie eine Stelle erreichte, wo die Baumwipfel über ihr sich mitten auf dem Weg berührten. Es war die kühlste und schattigste Stelle des ganzen Waldes. Das Blattwerk über Carmela war so dicht, daß sie nicht den kleinsten Streifen Himmel sehen konnte.
Sie ging weiter. Gleich hinter diesem dichten Blätterdach mußte das kleine Felsplateau erscheinen.
Dort war sie mit den Geschwistern früher gern hinaufgeklettert.
Von dort hatte man die schönste Aussicht auf die Hafenstadt und den blauen Atlantik.
Der Weg machte eine Biegung, und da lag auch schon das kleine Hochplateau.
Aber heute schien das alles anders zu sein. Die ganze Atmosphäre schien wie verwandelt.
Und plötzlich wußte Carmela auch den Grund dafür.
Die Musik!
Eine wilde und sonderbar liebliche Musik drang durch die Luft an ihre Ohren.
Wer spielte so kunstvoll die Geige? Denn daß es die Musik von einer Geige war, erkannte Carmela sofort.
In dieser Melodie lagen Abenteuer und Lebenslust, beschwingtes Tanzen und Fröhlichkeit.
Noch nie hatte das Mädchen einen Menschen so Geige spielen hören. Das klang nicht wie ein einzelnes Instrument. Das war ein ganzes Orchester, und die Luft flimmerte und sang, und ein leichter Wind kam von den höchsten Gipfeln der Wälder.
Die Sonne mußte mittanzen in diesem hinreißenden Spiel aus Rhythmus und Klang. Das Echo drang durch die Wälder und flog hinaus ins freie Land.
Zuerst erschauerte Carmela ein wenig. Das war keine normale Musik. Das konnte nicht ein Geigenspieler sein, wie man ihn am Wochenende in den verräucherten Fischerkneipen hören konnte.
Das war auch nicht der Fidelmeister aus einer der Touristen-Tavernen, die den alten Schicksalsliedern der Portugiesen lauschen wollten. Den alten, Wehmut und Kummer aufpeitschenden Fados, den Gesängen der hiesigen Volkssänger.
Carmela wußte plötzlich, daß sie an diesem Plateau nicht vorbeikommen würde. Sie mußte einfach wissen, wer so wunderbar, so verteufelt gut Geige spielen konnte.
Sie begann, einen kleinen Seitenweg neben dem Plateau hinanzusteigen.
Da hörte sie zum Klang der Geige die Stimme einer Frau. Sie konnte die Worte nicht verstehen. Nur in alten Gruselmärchen hörte man manchmal solche Worte.
Zauberworte. Worte voller Beschwörung und heimlicher Lust.
Worte und langgezogene Silben, wie aus den alten Büchern der Hexenmeister.
Schwester Carmela stieg weiter auf das kleine Plateau zu. Und immer lauter kamen ihr die Musik und die Stimme einer Frau entgegen.
Carmela glaubte, im Orient zu sein. Manchmal waren spanische Wörter darunter. Dann wieder klang es wie Arabisch, wie Türkisch, wie Indisch, wie Ungarisch.
Da ahnte Carmela, wer die singende Frau da oben sein mußte.
Eine Zigeunerin!
Nur die Zigeuner kannten so viele Sprachen. Sprachen, die fast um den ganzen Erdball reichten!
Der Weg war zu Ende. Carmela stand auf dem Plateau.
Aber sie sah nicht dorthin, wo sie früher immer hingeschaut hatte.
Ihr Blick ging nicht in Richtung Porto, Hafen und Ozean.
Wie gebannt blieb sie stehen.
Keine zehn Meter vor ihr stand die Zigeunerin.
La Zanuga!
Carmela war sicher, daß es sich nur um diese Frau handeln konnte, die für sie wie eine Sagengestalt war. Man redete ja in letzter Zeit so viel von ihr. Sie sollte Geister beschwören und Dämonen bezwingen können. Und selbst ein so scheußliches Wesen wie ein Vampir war nicht sicher vor ihr.
Das junge Mädchen rührte sich nicht.
Die Alte hörte nicht auf zu singen, zu tanzen und zu spielen. Ihre Finger flitzten über die Saiten und ließen die Geige stöhnen, singen, aufjauchzen und wieder krächzen.
Die Füße der Zigeunerin waren bloß. Wild wehte ihre schwarze Mähne, bei jeder Bewegung ihres Tanzes schwenkten die dichten Büschel ihres Haares hin und her.
Endlich schien sie aus einer Art von Trance
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