0036 - Das Rätsel von Schloß Montagne
Vergeltungsaktion auch sie ereilt?
Nicole umschlang den Hals der Stute mit beiden Armen. »Lauf, Danielle, lauf…« raunte sie.
Ein Gefühl hilfloser Ohnmacht nahm Besitz von Nicole. Die Angst hämmerte in ihrem Herzen. Sie wußte, daß sie in höchster Lebensgefahr schwebte. Das kleine Minisendegerät, das Zamorra ihr anvertraut hatte, ruhte wohlverwahrt in ihrer Handtasche im Schloß.
Schemenhaft sah sie im Vorbeireiten zwei reglose Gestalten im Gras. Doch sie war zu sehr mit sich und ihrer Angst beschäftigt, um ihre Gedanken damit zu befassen. Sie ahnte auf einmal, wie es sensiblen Menschen zu Mute sein mußte, die sich von solchen entsetzlichen Spukerlebnissen verfolgt glauben mußten. Es war kein Wunder, daß sie dem Wahnsinn zusteuerten. Auch sie bemerkte, daß nur ein Hauch genügte, um ihren Geist zu Staub zu zermalmen. Tiefes Grausen hatte sie gepackt wie mit Eisenkrallen.
Und der teuflische Hengst rückte auf, verminderte den Abstand zwischen sich und der Stute immer mehr.
Nicole war jetzt ganz der Geschicklichkeit der Stute überantwortet. Das Leben der Französin hing an einem dünnen Faden.
***
Zamorra war durch den Wehrgang zum Westturm hinübergegangen und hatte die schwere Eichentür, die zu dem kreisrunden Turmzimmer führte, mit dem Schlüssel geöffnet. Unbefugte durften die Bibliothek nicht betreten.
Zamorra weilte gern in diesem Raum. Die Bücher, die die Regale ringsum füllten, waren kostbar und oftmals seltene Einzelausgaben.
Er griff nach einem in rotes Leder gebundenen Band und nahm bequem im Sessel Platz.
Er schlug das Buch auf.
Seine Vorfahren hatten detailliert Buch geführt über die Veränderungen und Begebnisse bei den Familienmitgliedern.
Getreu dem Vorschlag Nicoles schlug er das Kapitel auf, das sich mit Leonardo de Montagne, dem »Schrecklichen« befaßte.
»Leonardo de Montagne aber herrschte über die Mächte der Finsternis…« las er.
Sein Urahne mußte ein Teufel in Menschengestalt gewesen sein.
Seit seiner Rückkehr von der Kreuzfahrt Anno Domini 1099, bei der er dem Kalifen Achman die Frau gestohlen hatte, war aus Montagne der »Schreckliche« geworden. Der Kalif hatte ihm aus Rache das Amulett zum Geschenk gemacht, das ihn als Herrscher über Damone und Geister befähigte.
Der uralte Fluch der Montagnes… da war er wieder!
Zamorra sah auf die Eintragung in der Familienchronik nieder.
Und er las weiter:
»Und siehe, in Leonardo de Montagne fuhr der Satan hinein. Er machte ihn schlecht, grausam und böse. Ihm deuchte, daß er mit Hilfe des Amuletts Herr der Welt werden könnte. Und es begab sich, daß er Dörfer niederbrennen ließ, die Menschen zusammentrieb wie Vieh und die Alten töten hieß. Und es geschah, daß vierzig Bettelmönche im Château de Montagne hungernd Einlaß begehrten. Sie waren unterwegs ins gelobte Land, um ihren goldenen Schrein zu opfern. Leonardo, der Schreckliche, lockte sie in das Schloß, versprach ihnen Brot und Wein, und vertrauensvoll folgten sie ihm. Doch er ließ sie in die Folterkammer sperren und setzte sich in den Besitz des Schreins. Dann befahl er seiner Leibtruppe, die Mönche zu foltern und ihre Leichen einzumauern. Und so geschah es Anno Domini 1103. Die abgezehrten, mißhandelten Männer wurden in einen fensterlosen Kellerraum im Südflügel des Châteaus geworfen und eingemauert. Die Männer des Schrecklichen nahmen sich gar nicht die Zeit, alle zu töten. So starben sie bei lebendigem Leibe, den Teufel in Menschengestalt verfluchend…«
Hier endete die Eintragung der Chronik.
Vierzig Bettelmönche, überlegte Zamorra.
Er ließ das schwere Buch sinken.
Und er hatte eine Vision.
Er sah diese vierzig Männer eingepfercht in dem vermauerten Raum. Es war dunkel, kalt, eng. Die Luftzufuhr wurde knapp. Die noch lebten, beteten sicher. Oder zweifelten sie an der allmächtigen Gerechtigkeit? Er vermeinte, ganz versunken in diesen furchtbaren Traum, das Ächzen und Stöhnen dieser Männer zu hören. Die Ohnmacht dieser Gefolterten mußte unermeßlich gewesen sein. Doch sicher flammte in ihnen noch der letzte Wille zum Überleben auf. Sie verfluchten ihren Peiniger. Sie gelobten ihm Rache… und so lebten ihre Seelen fort, verwandelten sich in Dämonen, die auf ihre Befreiung aus dem Joch warteten …
Zamorra fuhr zusammen.
Eine Ahnung beunruhigte ihn. Seine Sensibilität war so fein, daß sie die Schwingungen der Gefahr auffing.
Hart stieß er den schweren Gobelinsessel zurück und sprang auf.
Etwas Grausiges
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