0046 - Die Dämonenschmiede
hergegangen – direkt auf das Loch zu.
Bestimmt hatte es noch nicht existiert, als er sich der Ruine genähert hatte, sonst wäre er vorsichtiger gewesen. Eine Falle? Oder war es ein natürlicher Schacht, der nur oberflächlich mit Geröll und Pflanzen zugedeckt gewesen war und den Bill durch sein Gewicht geöffnet hatte?
Ich wagte mich vorläufig nicht näher heran. Die Steine drohten unter meinen Füßen wegzurutschen.
»Bill?« rief ich mit bebender Stimme. »He, Bill! Gib Antwort! Ich bin es! John!«
Doch die Antwort kam nicht.
Ich zweifelte nicht daran. Mein Freund war in dieses Loch gestürzt. Ich mußte ihm unbedingt helfen. Aber wie?
Ehe ich mir etwas einfallen lassen konnte, hörte ich wieder einen Schrei, diesmal einen hellen, ängstlichen. Er kam von hoch oben.
Ich legte den Kopf in den Nacken.
Kelly MacGowan!
Ich hatte sie für einige Minuten vollkommen vergessen. Jetzt sah ich sie wieder.
Das Mädchen kauerte auf der höchsten Zinne des Mittelturms. Es klammerte sich mit Händen und Füßen an dem Steinblock fest. Bis zu mir herunter hörte ich sein entsetztes Wimmern.
Ich hielt die Hände wie einen Schalltrichter an den Mund.
»Kelly!« schrie ich. »Ich bin es, John Sinclair! Bleiben Sie ganz ruhig liegen!«
Sie antwortete nicht, doch sie wandte mir ihr Gesicht zu. Trotz der großen Entfernung sah ich das Flackern in ihren Augen. Bills Schreie hatten sie aus der Trance gerissen. Plötzlich hatte sie sich oben auf dem Turm wiedergefunden, hoch über dem Erdboden und ohne jede Sicherung.
Es mußte ein fürchterlicher Schock für die Ärmste gewesen sein. Und jetzt fand sie nicht mehr den Weg zurück.
»Bleiben Sie liegen, ich helfe Ihnen!« rief ich.
Ich stand vor einer folgenschweren Entscheidung. Um wen sollte ich mich zuerst kümmern?
Bill Conolly oder Kelly MacGowan?
Ich durfte mich nicht danach richten, daß ich mit Bill befreundet war und Kelly kaum kannte. Ich durfte auch nicht daran denken, daß Kelly uns das Leben gerettet hatte und auf Bill zu Hause Sheila wartete.
Ich schwankte einen Moment, bis ich mich zum klaren, logischen Denken zwang. Ich mußte dem helfen, bei dem Hilfe überhaupt möglich und wahrscheinlich war.
Um das zu entscheiden, hob ich einen etwa faustgroßen Stein auf und warf ihn in den schwarzen Schacht. Und dann wartete ich. Ich zählte die Sekunden.
Als ich bei zwanzig angelangt war, hörte ich zu zählen auf. Das hatte keinen Sinn. Der Schacht besaß keinen Boden. Er war auch nicht mit Wasser gefüllt.
Also war Bill in eine Dämonenfalle geraten. Ihm zu helfen, war langwierig, vielleicht sogar unmöglich.
Wenn ich jedoch zögerte, verlor Kelly MacGowan die Nerven und stürzte ab. Sie war dann auf jeden Fall tot, während Bill vielleicht überlebte.
Die Entscheidung war gefallen. Kelly MacGowan.
»Bleiben Sie liegen, ich komme!« schrie ich und suchte nach einem Eingang zu der Ruine. Er lag auf der entgegengesetzten Seite und war kaum passierbar, weil er teilweise verschüttet und teilweise zugewachsen war. Endlich stand ich im ehemaligen Innenhof der Festung.
Der Mittelturm ragte wie ein schwarzer, mahnender Finger in den dunkler werdenden Abendhimmel hinauf. Von hier konnte ich Kelly kaum noch sehen. Nur ihr Fuß ragte über die Kante.
»Ich bin gleich bei Ihnen, Kelly, nur nicht den Mut verlieren!«
Wenigstens war der Zugang zum Mittelturm offen. Ich zwängte mich durch die schmale Lücke zwischen zwei Steinblöcken und stand in einem scheinbar endlosen Kamin. Die Öffnung ganz oben wirkte winzig.
Ich hatte keine Taschenlampe bei mir, doch meine Augen hatten sich mittlerweile an das Dämmerlicht gewöhnt. Der Anblick der »Treppe« jagte mir einen kalten Schauer über den Rücken.
Früher hatte es tatsächlich eine Steintreppe gegeben, die sich jeweils von Absatz zu Absatz an allen vier Seiten des Turms hingezogen hatte. Sie war stets umgeschwenkt und hatte an der nächsten Seite weiter in die Höhe geführt. In der Mitte hatte es schon immer einen Schacht von der Spitze bis zum Boden gegeben, doch das war wohl nicht so schlimm gewesen, solange die Treppe intakt gewesen war.
Doch jetzt konnte von einer intakten Treppe keine Rede mehr sein. Die meisten Stufen waren nicht mehr begehbar. Regenwasser und Frost hatten ihre Spuren hinterlassen. An vielen Stellen klaffte eine Lücke, durch die man auf den darunterliegenden Treppenabschnitt sehen konnte.
Es war mir ein Rätsel, wie Kelly da hinaufgelangt war.
Es war mir ein noch größeres
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