005 - Die Melodie des Todes
mein Spiel zu bezahlen oder um mich zu veranlassen, damit aufzuhören.«
In ihren Augen lag aufrichtige Fröhlichkeit; ein Lächeln strahlte über ihr Gesicht und veränderte ihr ganzes Aussehen.
»Ich will beides tun«, sagte Edith, »und außerdem möchte ich Sie noch etwas fragen: Kennen Sie meinen Mann?«
»Herrn Standerton«, erwiderte das Mädchen und nickte. »Ja, ich habe ihn öfters gesehen und für ihn gespielt.«
»Entsinnen Sie sich eines Abends im Juni«, fragte Edith, und ihr Herz schlug rascher bei der Erinnerung, »als Sie unter diesem Fenster standen und eine gewisse« - sie zögerte -, »eine gewisse Melodie spielten?«
Das Mädchen nickte bejahend.
»O ja«, sagte sie überrascht, »natürlich erinnere ich mich an diesen besonderen Abend.«
»Warum besonderen Abend?« fragte Edith rasch.
»Nun, Sie müssen wissen, daß in der Regel mein Großvater für Herrn Standerton spielt, und an jenem Abend war er krank. Er hatte sich beim Rennen eine böse Erkältung zugezogen - wir wurden durch einen Gewitterregen bis auf die Haut naß, nachdem wir in Epsom gespielt hatten -, und deshalb mußte ich hierherkommen und ihn vertreten. Ich hatte gar keine Lust, an jenem Abend auszugehen«, gestand sie mit einem bitteren Lächeln, »und ich hasse die Melodie; aber es war geheimnisvoll und romantisch.«
»Sagen Sie mir nur, was ›geheimnisvoll‹ und was ›romantisch‹ war«, entgegnete Edith.
In diesem Augenblick wurde der Kaffee hereingebracht, und sie goß ihrem Besuch eine Tasse ein.
»Wie heißen Sie?« fragte sie dann.
»May Wing«, erwiderte das Mädchen.
»Nun, May, berichten Sie mir alles, was Sie wissen«, fuhr Edith fort, und schenkte sich auch eine Tasse Kaffee ein, »und glauben Sie mir bitte, daß ich nicht aus Neugierde frage.«
»Ich will Ihnen gern alles erzählen«, sagte das Mädchen kopfnickend. »Ich habe diesen Tag besonders gut im Gedächtnis, weil ich auf der Musikakademie war, um meine Stunde zu nehmen - Sie werden meinen, wir könnten uns das nicht leisten, aber Großväterchen besteht durchaus darauf. Ich bin ziemlich müde nach Hause gekommen. Großvater lag auf dem Sofa. Wir wohnen in Hoxton. Er schien etwas aufgeregt. ›May‹, sagte er, ›ich möchte gern, daß du heute abend etwas für mich erledigst. Selbstverständlich war ich gerne bereit und freute mich, ihm einen Gefallen tun zu können.«
Das Mädchen hielt plötzlich ein.
»Ach, wie merkwürdig«, sagte sie, »ich glaube, ich habe einen Beleg für meine Erzählung in der Tasche.«
An ihrem Gürtel hing ein Täschchen, aus dem sie einen Briefumschlag herausholte.
»Das will ich Ihnen jetzt noch nicht zeigen«, fuhr sie fort, »sondern weitererzählen, was geschah. Wie ich schon gesagt habe, war Großvater sehr aufgeregt und fragte, ob ich etwas für ihn tun wolle. ›Ich habe einen Brief bekommen, aus dem ich absolut nicht klug werden kann‹, sagte er und zeigte mir diesen Brief.«
Das Mädchen hielt ihr den Briefumschlag hin.
Edith nahm ihn und zog eine Karte heraus.
»Aber das ist ja die Schrift meines Mannes!« rief sie.
»Ja«, bestätigte das Mädchen.
Der Brief trug den Poststempel von Doncaster, und der Inhalt war kurz. Er war an den alten Musiker adressiert und lautete wie folgt:
Beiliegend ein Postscheck auf ein Pfund; nach dessen Einlösung gehen Sie in der Zeit zwischen halb acht und acht Uhr vor das Haus von Herrn Standerton und spielen Rubinsteins »Melodie in F-Dur‹. Vergewissern Sie sich, daß er zu Hause ist; wenn nicht, so kommen Sie am nächsten Abend wieder und spielen das gleiche Stück zu der gleichen Zeit.
»Ich kann das nicht verstehen«, sagte Edith verwirrt. »Was soll es bedeuten?«
Die Geigenspielerin lächelte.
»Ich möchte selbst gerne wissen, was es heißen soll. Sie sehen, ich bin ebenso neugierig wie Sie.«
»Und Sie wissen nicht, warum diese Mitteilung geschickt wurde?«
»Nein.«
»Oder was sie bedeuten soll?«
Wieder schüttelte das Mädchen den Kopf.
Edith betrachtete den Umschlag und prüfte den Poststempel.
Das Datum war der vierundzwanzigste Mai.
»Der vierundzwanzigste Mai«, wiederholte sie für sich. »Warten Sie nur einen Augenblick«, sagte sie dann und lief in ihr Schlafzimmer hinauf.
In fieberhafter Eile schloß sie ihren Schreibtisch auf und holte das rotgebundene Tagebuch heraus, in das sie die kleinen Ereignisse ihres Lebens in Portland Square eingeschrieben hatte. Sie schlug den vierundzwanzigsten Mai auf. Es waren nur zwei Einträge
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