005 - Die Melodie des Todes
meine Angelegenheiten haben.«
»Du hast kein Recht, so etwas zu tun«, entgegnete die junge Frau empört. »Ich finde es unerhört von dir. Du hast einen Irrtum begangen und mußt die Folgen auf dich nehmen. Ich habe ebenfalls einen Irrtum begangen… Wenn es dir weh tut, daß ich mit einem Mann verheiratet bin, der mich geringschätzt, wieviel weher wird es dann erst mir selbst tun!«
Frau Cathcart lachte. »Ich versichere dir«, sagte sie, »daß zwar manche sorgenvollen Gedanken meine Nachtruhe stören, aber der Gedanke, daß dein Gatte keine besondere Liebe für dich empfindet, gehört nicht dazu. Was mich mit einem scheußlichen Gefühl aus dem Schlafe schreckt, ist das Bewußtsein, daß er, statt ein reicher Mann zu sein, wie ich dachte, tatsächlich keinen roten Heller besitzt. Welcher Wahnsinn hat ihn dazu veranlaßt, seine Stellung im Auswärtigen Amt aufzugeben?«
»Das fragst du ihn besser selbst«, erwiderte die junge Frau boshaft. »Er wird in wenigen Minuten dasein.«
Es bedurfte nur dieser Worte, um Frau Cathcarts Aufbruch zu beschleunigen.
Edith speiste an diesem Abend allein. Anfänglich hatte sie diese einsamen Abendessen mit einem Gefühl unendlicher Erleichterung begrüßt. Sie war eine Frau mit scharfem Verstand und sah der Zukunft ohne Illusionen entgegen.
Sie konnte sich vorstellen, daß eine Zeit kommen würde, in der sie und Gilbert in vollkommener Eintracht zusammenleben würden, wenn auch ohne die wesentlichen engen Beziehungen, die Mann und Frau sonst miteinander verbinden. Sie war bereit, Jahre der Prüfung auf sich zu nehmen, und das fiel um so leichter, wenn Geschäfte oder Vergnügungen während der peinlichen Stunden zwischen Abendessen und Schlafenszeit sie trennten.
Aber an diesem Abend fühlte sie sich zum erstenmal einsam.
Sie hatte Verlangen nach ihm und seiner Gesellschaft, seiner heiteren Lebenskraft.
Es gab Augenblicke, wo er strahlend glücklich und gesprächig war, so wie sie ihn in seinen besten Zeiten gekannt hatte. Aber es gab auch andre schreckliche und niederdrückende Momente, wo sie ihn nicht zu Gesicht bekam, wo er sich in seinem Arbeitszimmer einschloß und sie nur zufällig einmal einen kurzen Blick auf sein Gesicht werfen konnte. Abwechselnd lesend und nachdenkend saß sie beim Abendessen.
Ein Buch lag auf dem Tisch neben ihr, aber sie blätterte nicht weiter. Das Mädchen nahm eben die Vorspeise weg, als Edith Standerton erschreckt aufblickte.
»Was ist das?« fragte sie.
»Was, gnädige Frau?« fragte das Mädchen.
Draußen vor dem Fenster hörte man Musik, einen einschmeichelnden sanften Rhythmus, eine leise klagende Trauermelodie.
Sie stand vom Tisch auf, schritt zum Fenster hinüber und schlug die Läden zur Seite. Draußen spielte ein Mädchen auf der Geige. In dem Licht der Straßenlampe erkannte Edith in ihr die Spielerin der ›Melodie in F-Dur‹.
9
Edith wandte sich zu dem wartenden Dienstmädchen.
»Gehen Sie sofort hinaus und holen Sie das Mädchen herein!« sagte sie ruhig.
»Was für ein Mädchen, gnädige Frau?« erkundigte sich die erstaunte Zofe.
»Das Mädchen, das Geige spielt«, entgegnete Edith. »Bitte, machen Sie rasch, sonst geht sie fort.«
Eine plötzliche Entschlossenheit, dieses Geheimnis aufzudecken, durchdrang sie. Wenn sie auch vielleicht eine ungehörige Handlung gegen ihren Gatten begehen würde, so beschwichtigte sie alle Befürchtungen in dieser Hinsicht mit der Erwägung, sie könnte ihm vielleicht auch einen Dienst erweisen.
Die Zofe kam nach wenigen Minuten zurück und führte die Geigenspielerin herein.
Ja, es war das Mädchen, das sie an ihrem Hochzeitsabend gesehen hatte. Im Rahmen der Tür stand es nun da und betrachtete mit freimütiger Neugier die Herrin des Hauses.
»Wollen Sie nicht näher treten?« sagte Edith. »Haben Sie schon zu Abend gespeist?«
»Ich danke Ihnen vielmals«, erwiderte das Mädchen. »Wir essen gewöhnlich kein Abendbrot, aber ich habe reichlich zum Nachmittagstee gegessen.«
»Wollen Sie sich nicht ein Weilchen hinsetzen?«
Mit einer anmutigen Neigung des Kopfes nahm das Mädchen die Einladung an.
Ihre Stimme verriet keinerlei ausländischen Akzent, wie es Edith erwartet hatte. Sie war zweifellos Engländerin, und aus ihrem Ton sprach eine feinere Bildung, als Edith vorausgesetzt hatte.
»Sie wundern sich wohl, warum ich Sie habe holen lassen?«
Das Mädchen lächelte. »Wenn man mich rufen läßt«, erwiderte es ironisch, »so geschieht es entweder, um mich für
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