005 - Die Melodie des Todes
zu lesen. Der erste handelte von der Ablieferung eines neuen Kleides, aber der zweite war sehr bedeutungsvoll:
G. S. kam um sieben Uhr und blieb zum Abendessen. War sehr zerstreut und anscheinend in Sorgen. Er ging um zehn Uhr. Der Abend war deprimierend.
Sie schaute wieder auf den Umschlag.
›Doncaster 7.30« stand dort.
Der Brief war also hundertachtzig Meilen von London entfernt, eine halbe Stunde nach Gilberts Ankunft in Portland Square, abgestempelt worden.
Bestürzt ging sie in das Speisezimmer zurück, ließ sich aber ihre Aufregung in Gegenwart des Mädchens nicht anmerken.
»Ich fühle mich verpflichtet, der Kunst einen kleinen Tribut zu zollen«, sagte sie lächelnd, nahm ein Goldstück aus ihrer Börse und überreichte es May.
»Oh, nein«, wehrte die kleine Musikerin ab.
»Bitte, nehmen Sie es. Sie haben mir viel Stoff zum Nachdenken gegeben. Ist Herr Standerton seither jemals wieder auf diesen Vorfall zurückgekommen?«
»Niemals«, erwiderte das Mädchen. »Ich habe ihn seither nie mehr gesehen, außer einmal, als ich auf dem Deck eines Autobusses saß.«
Einige Minuten später verabschiedete sie sich.
»Was hat das alles zu bedeuten?« fragte sich Edith. »Welches Geheimnis steckt dahinter?«
Nun, da sie sich die näheren Umstände ins Gedächtnis zurückrief, entsann sie sich, daß Gilbert an jenem Abend schrecklich zerstreut gewesen war.
Aber wenn er das Erscheinen des Musikers erwartet und wenn er selbst das Stück, das er spielen sollte, ausgesucht hatte, warum hatte dann das Spiel eine so furchtbare Wirkung auf ihn ausgeübt? Er war kein Mann der Posen.
In seinem Charakter lag nichts Theatralisches.
Er war Musiker und liebte Musik wie sonst nichts auf der Welt - außer ihr.
Seit ihrer Verheiratung hatte er seinen Flügel nicht geöffnet. Während er sich früher fast kein einziges musikalisches Ereignis Londons entgehen ließ, hatte er seither weder ein Konzert noch eine Oper besucht.
Es kam ihr vor, als habe mit dem Spiel der ›Melodie in F-Dur‹ ein schöner Abschnitt seines Lebens ein Ende gefunden.
Einmal hatte sie vorgeschlagen, in ein Konzert zu gehen, bei dem das ganze musikalische London zugegen war.
»Vielleicht gehst du allein hin, wenn es dir recht ist«, hatte er ihr kurz entgegengehalten. »Ich fürchte, ich werde heute abend geschäftlich ziemlich in Anspruch genommen sein.« Und das war der gleiche Mann, der ihr nicht nur einmal erklärt hatte, Musik drücke ihm jede Botschaft und jede Gefühlsbewegung in einer klareren Sprache aus als das gedruckte Wort.
Was hatte das zu bedeuten? Ein drängendes Verlangen, den Dingen auf den Grund zu gehen, überkam sie - sie wollte einen größeren Anteil an seinem Leben haben. In welchem Zusammenhang stand diese Melodie mit der plötzlichen Veränderung, die mit ihm vorgegangen war? Welche Verbindung bestand zwischen ihr und dem rastlosen Leben, das er in der letzten Zeit führte? Was hatte sie mit seinem Austritt aus dem Auswärtigen Amt und aus seinen Klubs zu tun?
Sie war fest überzeugt, daß ein Zusammenhang bestehen müsse, und sie war entschlossen, ihn zu entdecken.
Solange sie im dunkeln tappte, konnte sie ihm nicht helfen. Instinktiv fühlte sie, daß es wenig Wert haben würde, ihn zu fragen. Er gehörte zu der Art Menschen, die sich nicht gerne in die Karten schauen lassen.
Sie war seine Frau und fühlte sich ihm verpflichtet. Sie hatte Unglück in sein Leben gebracht und mußte sich nach Kräften bemühen, ihm zu helfen; doch dazu brauchte sie Geld.
Sie setzte sich nieder, um eine kurze Mitteilung an ihre Mutter zu schreiben: Sie wolle die vom Makler gebotenen dreihundert Pfund annehmen; sie verstieg sich sogar zu der Andeutung, sie würde selbst Herrn Warrell aufsuchen und die Verhandlungen mit ihm abschließen, falls die Angelegenheit nicht umgehend von ihrer Mutter erledigt würde.
Im Morgenblatt hatte sie die Anzeige einer Privatdetektei gelesen und war vorübergehend geneigt, einen Mann in ihren Dienst zu nehmen. Aber welche besonderen Fähigkeiten konnten Privatdetektive haben, die sie selbst nicht auch besaß. Man brauchte keine besondere Ausbildung, um sein Gehirn arbeiten und seinen Scharfsinn walten zu lassen.
Sie hatte eine Lebensaufgabe gefunden - die Entschleierung des Geheimnisses, das ihren Mann umgab. Es wurde ihr freudig zumute bei der Aussicht auf das Werk, das sie sich zum Ziel ge setzt hatte.
»Du solltest eine Beschäftigung für dich finden«, hatte Gilbert in seiner
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