005 - Die Melodie des Todes
zurückhaltenden Art gesagt.
Sie lächelte und fragte sich, was er wohl denken würde, wenn ihm die Beschäftigung bekannt wäre, die sie sich ausgesucht hatte.
Das Häuschen in Hoxton, das May und ihrem Großvater als Obdach diente, lag in einer kleinen anständigen Straße, die größtenteils von Künstlern bewohnt wurde. So klein und einfach die Wohnung war, so war sie doch mit ausgezeichnetem Geschmack eingerichtet.
Der alte Herr Wing saß in einem Armstuhl neben dem Feuer in einem Raum, der gleichzeitig als Küche und Speisezimmer diente. May war mit einer Handarbeit beschäftigt.
»Mein liebes Kind«, sagte der alte Mann mit seiner angenehmen Stimme, »ich glaube, es ist besser, du gehst heute abend nicht wieder fort.«
»Warum nicht, Großpapa?« fragte das Mädchen, ohne von ihrer Arbeit aufzuschauen.
»Nun, wahrscheinlich ist es selbstsüchtig von mir«, erwiderte er, »aber ich möchte nicht gern allein bleiben. Ich erwarte einen Besuch.«
»Einen Besuch?«
Besuche waren im Haus Nr. 9 Pexton Street, Hoxton etwas Ungewöhnliches. Der einzige gewohnte Besucher war der Mieteinnehmer.
»Ja«, antwortete ihr Großvater zögernd, »ich glaube, du wirst dich an den Herrn erinnern; du hast ihn vor einiger Zeit gesehen.«
»Doch nicht Herr Standerton?«
Der alte Mann schüttelte den Kopf.
»Nein, Herr Standerton ist es nicht«, sagte er, »aber du wirst dich des netten Mannes entsinnen, der dir nach dem Rennen in Epsom aus dem Gedränge heraushalf?«
»Ich entsinne mich«, sagte sie.
»Sein Name ist Wallis«, fuhr der Alte fort. »Ich bin ihm heute zufällig beim Einkaufen begegnet.«
»Wallis«, wiederholte sie.
Der alte Wing schwieg eine Weile, dann fragte er: »Meinst du, wir könnten einen Zimmerherrn brauchen?«
»O nein«, protestierte das junge Mädchen. »Bitte nicht!«
»Ich finde, die Miete ist ziemlich schwer aufzubringen«, sagte ihr Großvater kopfschüttelnd, »und dieser Herr Wallis ist ein ruhiger Mensch, der uns wahrscheinlich nicht weiter stören wird.«
Das Mädchen gab sich noch nicht zufrieden.
»Es wäre mir lieber, wir brauchten es nicht zu tun«, meinte sie. »Ich bin überzeugt, wir können genug verdienen, um den Haushalt ohne solche Hilfe zu bestreiten. Zimmerherren bringen immer Unannehmlichkeiten mit sich. Ich glaube auch nicht, daß Frau Gamage damit einverstanden wäre.«
Frau Gamage war die Nachbarin, die jeden Morgen zur Hilfe im Haushalt erschien.
Als das Mädchen das enttäuschte Gesicht des alten Herrn sah, ging sie zu ihm und legte ihren Arm um seine Schultern.
»Reg dich nicht auf«, sagte sie. »Wenn du einen Zimmerherrn haben willst, sollst du einen haben. Ich glaube, es wird sehr nett für dich sein, jemanden im Haus zu haben, mit dem du plaudern kannst, wenn ich fort bin.«
Da klopfte es an die Tür.
»Das wird wohl unser Besucher sein«, meinte sie und ging öffnen. Sie erkannte den Mann wieder, der in der Tür stand.
»Darf ich hereinkommen?« fragte er. »Ich möchte Ihren Großvater geschäftlich sprechen. Ich vermute, Sie sind Fräulein Wing.«
Sie nickte.
»Treten Sie ein«, sagte sie und führte ihn ins Zimmer.
»Ich will Sie nicht allzulange aufhalten«, begann Herr Wallis. »Nein, danke, ich will so lange stehen bleiben. Ich möchte gerne ein ruhiges Logis für einen Freund von mir finden. Wenigstens«, fuhr er fort, »ist er ein Mann, für den ich etwas übrig habe, ein recht ruhiger, nüchterner Mensch, der den größten Teil des Tages und möglicherweise manchmal auch in der Nacht aus dem Hause ist.« Er lächelte. »Er ist ein -« Er zögerte -, »er ist ein Taxichauffeur, um genau zu sein. Allerdings hat er es nicht gern, daß diese Tatsache allzu bekannt wird, weil er - äh - bessere Tage gesehen hat.«
»Wir haben nur ein kleines Zimmer, das wir Ihrem Freund geben können«, sagte May. »Vielleicht wollen Sie es ansehen.«
Sie führte ihn in ein kleines Schlafzimmer hinauf, das sie nur sehr selten zur Unterbringung ihrer wenigen Gäste gebraucht hatten. Das Zimmer war hübsch und sauber, und George Wallis nickte beifällig.
»Am liebsten würde ich es für mich selbst haben«, erklärte er. Er schlug selbst einen höheren Preis vor, als sie verlangte, und bestand darauf, einen Monat im voraus zu bezahlen.
»Ich habe dem Mann gesagt, er solle vorsprechen. Er könnte jetzt schon hier sein; wenn Sie nichts dagegen haben, werde ich auf ihn warten.«
Er brauchte nicht lange zu warten, denn nach wenigen Minuten erschien der neue
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