005 - Tagebuch des Grauens
nur eingebildet? Ich trat noch einen Schritt näher.
Die Gestalt streckte die Arme nach mir aus. Waren es wirklich Arme? Ich konnte es nicht genau erkennen.
Die Erscheinung schwebte ganz nah vor mir. Plötzlich wurde mir kalt. Und wieder ertönte die unheimliche Stimme:»Komm näher!«
Es war mir unmöglich, diesen Befehl nicht zu befolgen. Zitterte ich? Ich fror erbärmlich, und mein Hirn schien völlig leergefegt von allen Gedanken. Auch um mich herum schien Leere zu herrschen. Ich hatte das Gefühl, im luftleeren Raum zu schweben.
Ich hatte sogar vergessen, dass Michel im Zimmer war.
Die Erscheinung … dieses unheimliche, seltsame Ding. Ja, es war eher ein Ding als ein Geist. Genau wusste ich es auch nicht. Jedenfalls erfüllte mich die Erscheinung mit Grauen.
Ich machte noch einen Schritt an die Erscheinung heran und stand mitten drin in dem Lichtschein, aus dem sie zu bestehen schien.
Plötzlich spürte ich eine eisige Berührung. Ein Schauder lief mir über den Rücken. Die unheimliche Stimme schnitt mir tief ins Bewusstsein: »Du gehörst mir!«
Furchtbar! Ich wollte mein Entsetzen laut hinausschreien und öffnete den Mund, doch eine eisige Hand legte sich auf meine Lippen. Sie war hart und fest – eine Knochenhand.
Und dann spürte ich den grauenhaften Geruch. Er war mir unbekannt, ich hatte noch nie etwas Ähnliches gerochen. Vielleicht gab es so etwas in unserer Welt gar nicht.
Plötzlich fühlte ich die Erscheinung an meinem Körper. Sie umschlang mich. Ich spürte, dass mich gespenstische Arme umfangen hielten.
An meinem Gesicht spürte ich ein anderes. Es war eiskalt und erfüllte mich mit Entsetzen. Ich spürte einen Mund an meiner Haut.
Ich hatte nur einen Gedanken: Ich muss mich retten! Ich darf nicht in der Gewalt dieses gespenstischen Ungeheuers bleiben! Wenn ich mich nicht rette, werde ich sterben. Sterben? Vielleicht bin ich schon tot?
Ich schloss die Augen, um die furchtbare Erscheinung nicht mehr sehen zu müssen. Doch die schaurige Stimme drang noch immer klar in mein Bewusstsein: »Du gehörst mir!«
Die Worte schnitten mir ins Herz. Der Klang der Stimme erfüllte mich mit Angst und Abscheu. Ich wollte Widerstand leisten.
»Nein!« rief ich heftig.
Doch meine Stimme klang ganz anders als sonst. Rauh und gequält.
Unter halbgeschlossenen Lidern sah ich den Kopf der Erscheinung, der sich mir langsam näherte.
Nein! Das schreckliche Ding sollte mich nicht wieder berühren. Ich konnte es nicht ertragen! Und der grauenvolle Geruch, bei dem mir übel wurde … Ich musste mich wehren.
»Hilfe!« Ich schrie laut auf und stürzte zu Boden.
Die Sinne schwanden mir.
Plötzlich hörte ich Michels Stimme. Aber ich war unfähig, ihm zu antworten.
Er beugte sich über mich und hob mich hoch. Dann half er mir auf einen Stuhl. Er nahm meine Hände.
»Suzanne«, sagte er leise, »Suzanne …«
Langsam kam ich wieder zu mir. Was war das für ein furchtbar lautes Geräusch? Erst nach einer Weile merkte ich, dass es das Ticken der Standuhr war, das wie Glockenschläge in meinem
Kopf dröhnte.
Anscheinend hatte ich geweint, denn meine Wangen waren ganz nass.
»Suzanne, erzähl mir, was du gesehen hast«, sagte Michel.
Ich wollte nicht. Ich wollte nicht darüber sprechen. Es war zu grauenhaft gewesen.
Wenn ich davon erzählt hätte, wären die furchtbaren Minuten wieder in mir lebendig geworden.
Mit sanfter Stimme wiederholte er seine Aufforderung. Er streichelte meine Hand. Die Sanftheit dieser Liebkosung tat mir sehr wohl. Wie angenehm es war, wieder die Wärme menschlicher Haut zu spüren nach der eisigen Kälte, die von der
Erscheinung ausgegangen war.
Ich erzählte Michel alles, was ich gesehen, alles, was ich erlebt hatte.
»Hab keine Angst«, sagte er leise.
Die Erscheinung war verschwunden. »Michel, erkläre mir das alles«, verlangte ich von ihm.
»Nein, du würdest es doch nicht verstehen.«
»Warum hat das grauenhafte Ding gesagt, dass ich ihm gehöre?«
Plötzlich wurde Michel sehr ernst. »Weil es die Wahrheit ist«, erwiderte er.
Ich versuchte es zu verstehen, versuchte nachzudenken. Warum sollte ich ihm gehören?
»Michel«, bat ich, »sag doch, dass alles nur ein Traum war.«
Er hielt noch immer meine Hand in der seinen. »Es gibt sehr vieles, was der Mensch nicht verstehen kann. Wir leben auf der Erde, und deshalb können wir nicht die ganze Wahrheit erkennen. Nur ein Teil der Welt ist uns erschlossen, aber es gibt vieles, wovon wir nichts wissen und das
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