005 - Tagebuch des Grauens
trotzdem existiert.«
Das tröstete mich nicht.
»Michel, die Erscheinung …«
»Du hast sie wirklich gesehen. Manchmal brauchen uns die Toten.«
»Bitte, sage mir mehr darüber. Sage mir alles, was du weißt.«
»Dass du die Erscheinung gesehen hast«, erklärte Michel, »das beweist, dass du auserwählt bist.«
»Wozu auserwählt?« fragte ich.
»Das wirst du bald genug erfahren.« Ich verstand immer weniger. Außerdem hatte ich den Eindruck, dass die schreckliche Erscheinung sich noch immer im Raum befand, obwohl ich sie nicht mehr sah.
Ich zitterte. Musste ich den ekelhaften Kontakt mit dem scheußlichen Wesen etwa nochmals ertragen? Diesen grauenhaften Geruch …
Michel erhob sich. Ich stand ebenfalls auf.
»Suzanne, ich glaube, es ist besser, wenn wir Pierre nichts von dem erzählen, was du erlebt hast. Er würde sicher kein Verständnis dafür haben.«
»Meinst du?«
»Er würde sich nur über uns lustig machen. Er ist viel zu eigensinnig, um zuzugeben, dass er unrecht gehabt hat.«
Wahrscheinlich hatte Michel recht.
»Beruhige dich«, fuhr er fort. »Komm, wir gehen wieder zu ihm.«
Ich war entschlossen, Pierre nichts von dem zu erzählen, was ich erlebt hatte. Es war besser, wenn ich es für mich behielt.
Ich erhob mich und näherte mich der Tür. Als ich den Raum verlassen wollte, hörte ich deutlich eine Stimme.
Sie sagte:»Du gehörst mir.«
In diesem Augenblick wusste ich, dass es sinnlos war, Widerstand zu leisten.
Ich packte Michel am Arm. »Werde ich das … das Ding
wiedersehen?«
Er nickte. »Ja. Jetzt hast du die Erscheinung herbeigerufen,
und nun musst du auch weitermachen … bis zum Ende.«
»Was willst du damit sagen?«
»Das wirst du schon merken«, erwiderte er.
Wir traten in den Hausflur. Ich hatte das Gefühl, nicht mehr ich selbst zu sein. Nur undeutlich wurde mir klar, dass Pierre besorgt war, als wir in die Küche kamen. Es schien sehr erregt. Warum eigentlich? Er hatte doch nichts Furchtbares erlebt.
Ich dagegen … ich hatte Unaussprechliches erlebt. Was hätte er wohl an meiner Stelle getan?
Es ist sinnlos, darüber nachzudenken.
Ich trat ans Feuer. Doch mir schien, als könnte kein Feuer jemals meine Hände und meinen Körper wieder erwärmen.
Dann traten wir den Heimweg an.
Pierre schläft neben mir. Ich wünschte, ich hätte auch schon Schlaf gefunden.
Ich warte. Aber warum denn? Warum warte ich?
Plötzlich weiß ich die Antwort. Dort vor mir, an der Wand mir gegenüber, taucht die Erscheinung auf. Jetzt erkenne ich sie schon. Der grauenhafte Kopf zeichnet sich immer deutlicher vor dem Hintergrund ab. Was will das Ungeheuer?
»Suzanne!« ruft die unheimliche Stimme, die ich jetzt schon kenne.
»Suzanne!«
»Ja?«
»Bald wirst du mit mir gehen. Ich habe dich ausgewählt.«
Ich will eine Frage stellen, doch kein Wort kommt über meine Lippen.
»In einem Monat.«
»In einem Monat?« frage ich.
»Löse dich von der Erde. Dich erwartet ein anderes Reich.«
Plötzlich begreife ich, was er meint. Soll ich wirklich in einem Monat schon sterben?
»Nein, das ist nicht wahr!« rufe ich.
»Beruhige dich!« befiehlt die Erscheinung.
In einem Monat schon? Nein, daran will ich nicht glauben.
»Jetzt werde ich jede Nacht zu dir kommen«, höre ich die Stimme der Erscheinung.
Ich strecke die Arme aus, um mich zur Wehr zu setzen. Dann lasse ich mich in die Kissen zurücksinken. Ich schließe die Augen. Neben mir atmet Pierre ruhig und friedlich.
Ich spüre einen kalten Atem auf meinem Gesicht. Zwei eisige Hände legen sich auf meine Stirn.
Ich muss Licht machen! Wenn es mir gelingt, Licht zu machen, wird der schreckliche Spuk vergehen. Aber ich darf Pierre nicht wecken.
Die Erscheinung sagt dicht an meinem Ohr:
»Ich komme wieder.«
Als ich die Nachttischlampe anknipse und es hell wird, ist die Erscheinung verschwunden.
Leise stehe ich auf. Ich ziehe den Morgenrock an und gehe in die Küche hinunter. Dort nehme ich ein leeres Schulheft, in das ich eigentlich unsere Ausgaben einschreiben wollte, dass ich aber nie benutzt habe.
Dann setze ich mich an den Tisch und fange an zu schreiben.
Später werde ich das Heft verstecken. Wenn Pierre diese Zeilen liest, wird er denken, ich wäre verrückt geworden.
Eigentlich müsste ich es wirklich schon sein, nach dem, was ich erlebt habe.
Seit drei Tagen habe ich keine Eintragung in meinem Tagebuch vorgenommen. Ich dachte zunächst, dass ich geheilt sei, dass alles nur ein böser
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